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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 253

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BUBER: ÜBER JAKOB BOEHME.

die Welt in sich fassen und aus sich
herausstellen lässt, sondern im Sinne jener
großen Renaissance-Lehre vom Mikrokos-
mos, die über Leibniz und Goethe zu
uns herüberwirkt. Diese Lehre, in der
Antike nur angedeutet, hatte in schema-
tischer und lebloser Gestalt in der Scholastik
herumgespukt; Cusanus, Agrippa, Para-
celsus und Weigel hatten sie ausgebildet;
Boehme führte sie am schönsten und am
gefühlsmächtigsten durch: »Gott ist nicht
abtheilig, sondern überall ganz, und wo
er sich offenbart, da ist er ganz offenbar«.
Und da Gott die Einheit aller Kräfte ist,
so trägt jedes Einzelding aller Dinge
Eigenschaften in sich, und was wir sein
Individuelles nennen, das ist nur der höhere
Entwicklungsgrad dieser oder jener Eigen-
schaften. »Wenn ich einen Stein oder
Erdklumpen aufhebe und ansehe, so sehe ich
das Obere und das Untere, ja die ganze
Welt darinnen, nur dass an einem jeden
Dinge etwa eine Eigenschaft die größte
ist, darnach es auch genennet wird. Die
anderen Eigenschaften liegen alle mit-
einander auch darinnen, allein in unter-
schiedlichen Graden und Centris«. Da
aber für Boehme das Wesentliche dieser
Anschauung in ihrer Anwendung auf das
Ich besteht, bezieht er sie immer wieder auf
den Menschen, und wiederholt, »dass im
Menschen die ganze Creatur lieget; liegt
doch Himmel und Erden mit allen Wesen,
dazu Gott selber im Menschen.« Dieses
wunderweite Weltgefühl ist uns ganz zu
eigen geworden. Wir haben es in unser
innerstes Erleben verwoben. Wenn ich
eine Frucht zum Munde führe, so fühle
ich: das ist mein Leib; und wenn ich
Wein an meine Lippen setze, fühle ich:
das ist mein Blut. Und es kommt uns
manchmal die Lust, die Arme um einen
jungen Baum zu legen und den gleichen
Schritt der Lebenswelle zu fühlen oder
aus den Augen eines stummen Thieres
unser eigenstes Geheimnis zu lesen. Wir
erleben das Reifen und Welken fernster

Sterne wie etwas, was uns geschieht.
Und es gibt Augenblicke, in denen unser
Organismus ein ganz anderes Natur-
stück ist.

Wenn aber für Boehme alles im
Menschen ist, so kann für ihn dessen
Entwicklung nur eine Entfaltung sein.
Es wächst alles aus dem Innern heraus.
Wir erkennen die Welt, weil wir sie in
uns haben. Schon Weigel hatte gesagt:
»Es sei dann Sach’, dass man vermeinen
wollt’, die äußeren Gegenwürfe (d. h. die
Gegenstände unserer Wahrnehmung) ver-
mögen eine jegliche Erkenntnis in den
Menschen zu tragen, so ist es doch nur
eine Erweckung durch dieselbe; was
der Mensch ist und sein soll von Natur
und Gnaden, das muss er in ihm haben
und besitzen.« Boehme fügt hinzu: »Gott
führet keinen neuen oder fremden Geist
in uns, sondern er eröffnet mit seinem
Geiste unsern Geist«. Von alledem fühlen
wir trotz aller erkenntnistheoretischen
Wandlungen dieses eine, dass nichts in uns
hineingetragen und alles ausgelöst werden
kann, weil wir die Welt in uns haben.

Und weil für Boehme in allem alles
ist, darum kennt er keinen verschiedenen
Wert der Dinge. Weil für ihn alles
in allem ist, ist für ihn das Schenken
eine natürliche Eigenschaft und eine
nothwendige Voraussetzung der Selbst-
entfaltung. »Die Sonne« — so sagt er —
»gibt sich mit ihrer Kraft ohne Unter-
schied darein, sie liebet eine jede Frucht
und Gewächs und entzeucht sich keinem
Dinge; sie will anders nichts, als einem
jeden Kraute, oder was das ist, eine gute
Frucht aufziehen; sie nimmt alle an,
sie sind böse oder gut, und gibt ihnen
ihren Liebeswillen; denn anders kann sie
nicht thun, sie ist kein anderes Wesen,
als was sie in sich selber ist.« — »Alle
Worte, so der Mund hat geredet, welche
die Luft hat in sich genommen und dem
Worte zu dem Macher gedienet, soll die
Luft
* wieder darstellen

* Unter »Luft« ist hier wohl die astrale Materie zu verstehen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 253, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0253.html)