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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 295

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

1. AUGUST 1901

V. JAHRGANG, NR. 15


DAS WESEN DES OPFERS
IM ANSCHLUSSE
AN TH. SCHULTZES »RELIGION DER ZUKUNFT«.
Von BARON. E. GUMPPENBERG.

Wenn wir dem Verständnis der Ent-
wicklung einer Welt näherkommen wollen,
handelt es sich wohl weniger darum,
bestehende und bestanden habende Reli-
gionen ad absurdum zu führen, als Ant-
wort zu finden auf die Frage: »Wie kam
es, dass zu jeder Zeit, in allen Ent-
wicklungsmomenten der Menschheit dieser
ein gewisses metaphysisches Bedürfnis
innewohnte, das sich in Form einer Religion
krystallisierte? Wenn ein Suchen, im
Ewigen die Lösung der Fragen zu finden,
die sich im Endlichen nicht finden lassen,
schon in grauen Vorzeiten gewesen, und
jetzt noch unsere tiefsten Denker be-
schäftigt, sind wir berechtigt, die Reli-
gionen, die das Theilergebnis solchen
Suchens sind, als etwas anderes zu be-
zeichnen, als die jeweilige Erscheinungs-
form einer Wahrheit, die sich offenbaren
muss, da sich das Urleben offenbarte
und so diese Welt der Form entstanden
ist? Wenn ein Mensch bekennt, ein Wahr-
heitsforscher zu sein, muss er die weit-
gehendste Toleranz auf sein Panier schreiben
und durchdrungen sein von der Empfindung,
dass absolute Wahrheit sich schleierlos

uns nicht offenbaren kann, die relativen
Wahrheiten einander nicht befehden lassen,
sondern sie möglichst von den Schleiern des
Exoterischen zu befreien suchen. In der
Überzeugung, dass unsere Erde kaum das
Alpha der Wahrheit vernommen, wird
er, statt lautes Kriegsgeschrei gegen eine
Religion zu erheben, schweigend horchen,
ob er in seinem Innersten vielleicht das
Beta zu vernehmen vermag.

Ob es uns jemals möglich sein wird,
Begriffe zu fassen, für die uns alle
Analogie fehlt, muss eine offene Frage
bleiben. Und welche Beweise können wir
schließlich bringen, dass das Beste und
Schönste in uns nicht doch ein schwacher
Abglanz göttlicher Herrlichkeit sei? Wo
aber das Wissen ein Ende haben muss,
da ihm die Grenzen unseres Begriffs-
vermögens gezogen sind, ist es nicht
thöricht, außerhalb dieser Grenzen gar
noch Kämpfe führen zu wollen? Sollen wir
unseren endlichen Intellect, der doch nur
Entwicklungsmöglichkeit für uns ist, nicht
lieber zu seinem wahren Zweck verwenden?

Es befremdet mich, zu hören, dass
der Verfasser der »Religion der Zukunft«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 295, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0295.html)