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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 16, S. 313

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

15. AUGUST 1901

V. JAHRGANG, NR. 16


ZUR SYMBOLIK IN WAGNERS „PARSIFAL“.
Von EMIL LUCKA (Wien).

Wie der alte Goethe im zweiten Theile
des »Faust« den Extract seiner Erkenntnis
»Der Weisheit letzten Schluss« nieder-
gelegt hat, so Wagner im »Parsifal«.

Es mag vielleicht angehen, die früheren
Werke Wagners ganz naiv, nicht reflec-
tierend, nur in Freude an ihrem poetisch-
legendarischen Gehalt aufzunehmen; bei
»Tristan und Isolde« und der Tetralogie
erzeugt diese Betrachtungsweise schon
derartige Unklarheiten und Illogismen, dass
ein einheitliches Bild der Dichtung nicht
gewonnen werden kann; eine naive, die
Symbole durchaus nur von ihrer Er-
scheinungsseite aus ins Auge fassende
Deutung des »Parsifal« ist ganz unmöglich.
Der tiefe Sinn dieser Dichtung liegt zum
geringen Theil offen zutage, das Meiste
erschließt sich erst nach längerer Über-
legung und andauernder Vergleichung dem
Verständnis.

Wie alle Dichtungen Wagners, be-
handelt auch der »Parsifal« das ethische
Problem, dessen Lösung in diesem letzten
Werke angedeutet wird. Gleich in der kurzen
Exposition wird der Mensch, der stets
nach Hohem strebte, doch zu schwach
war, es zu erreichen, als schwer leidender
Gralkönig (Amfortas) vorgeführt. Er ist
zwar »des siegreichen Geschlechtes Herr«,

das heißt: der Mensch hat wohl durch
Geisteskraft die todte Natur und die Thiere
unterworfen, aber er leidet an der schreck-
lichen Wunde, der Sünde, die sich nicht
schließt. In knapper Aufeinanderfolge
werden die Mittel angedeutet, die zur
Heilung führen sollen, aber nur kurze
Linderung bieten. Die Hilfe der Gralritter
(der zwar ernsthaft bemühten, aber un-
mächtigen, weil ungenialen Menschen)
bleibt fruchtlos, und auch der Balsam, den
Kundry herbeischafft (auf den edlen
weiblichen Beruf der Krankenpflege hin-
weisend) nützt wenig. Mehr heilende Kraft
bietet der Anblick der reinen Natur, die
den Kranken mit ihrer unerschöpflichen
Lebenskraft durchflutet: »Es staunt das
Weh’, die Schmerzensnacht wird helle«.
Aber auch dies, das ästhetische Versenken,
das einen Moment vom Leiden befreite,
löscht das Übel nicht aus. »Hier hilft nur
Eines.« Der mystische Verheißungsspruch
lautet:

»Durch Mitleid wissend,
Der reine Thor,
Harre sein,
Den ich erkor.«

Der Sieche versteht die Weissagung
nicht, er denkt nicht der Sühnung, er er-
sehnt das unfruchtbare Ende, den Tod.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 16, S. 313, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-16_n0313.html)