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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 296

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GUMPPENBERG: DAS WESEN DES OPFERS.

ein Buddhist war. Die dem Buddhismus
zugrundeliegenden Wahrheiten, wie sie die
Theosophie in jüngster Zeit in Europa zu
verbreiten sucht, stehen nicht nur dem
Christenthum nicht feindlich gegenüber;
im Gegentheil, Annie Besant in ihrem
Buche »Ancient Wisdom« (in deutscher
Übersetzung »Die uralte Weisheit« von
L. Deinhart erschienen) lehnt sich an das
esoterische Christenthum an. Ich möchte
versuchen, einige Vergleiche einzuschalten
zwischen der Auffassung der Lehre Christi,
wie Th. Schultze sie niederlegt, und wie
ein esoterischer Christ sie auffassen
müsste.

Th. Schultze sagt, nachdem er die nur
geringen Unterschiede zwischen dem jüdi-
schen Gottesbegriff und dem Gottesbegriff
der Heiden darzustellen sucht (»Religion
der Zukunft«, pag. 36): »Hätte Jesus
daran gedacht, eine neue Weltreligion zu
gründen, dann hätte er vor allem die
überlieferte »Jahve«-Vorstellung beseitigen
und etwas Besseres an deren Stelle setzen
müssen.« Ich glaube, die Lehre, die höhere
Wesen — unsere älteren Brüder — unserer
Erde in den verschiedenen Stadien ihrer
Entwicklung zu bringen hatten, trugen
immer mehr den Charakter der Erweiterung
und Vertiefung vorhandener Lehren und
Begriffe, als ein Umstürzen des Bestehen-
den. Deshalb sagte Christus: »Ich komme
nicht, das Gesetz umzustürzen, sondern es
zu erfüllen.« In der Natur solcher »Er-
füllung« liegt aber das Sichaufzehren der
Unzulänglichkeiten, und so müssen im
Laufe der bildenden Zeiten die Gesetze,
wie menschliche Begriffe sie zusammen-
zufassen imstande waren, sich so um-
formen, dass von der früheren Gestalt
nichts mehr vorhanden bleibt. Unserer
Entwicklungsstufe gemäß können sich
solche Verwandlungen nicht ohne Kämpfe
vollziehen; auf das weist Christus hin mit
den Worten: »Ich komme nicht den
Frieden zu bringen, sondern ein Schwert«.

Die Schriftstellen, in »Die Religion der
Zukunft« pag. 38 angeführt, um den
Anthropomorphismus Christi zu beweisen,
geben, esoterisch aufgefasst, einen Gottes-
begriff, welcher der höchsten Auffassung,
deren unsere heutige Entwicklungsstufe
fähig ist, nicht widerspricht. »Gott ist
vollkommen« (Math. 5, 48). Der Be-

griff Vollkommenheit schließt doch die
jüdischen Begriffe des rächenden, zornigen,
eifersüchtigen, willkürlichen Gottes aus.
»Der allein Gute« (Math 10, 18),
»Der einige Herr« (Math. 12, 29),
mit anderen Worten: die große Ein-
heit, aus der die Vielheit der Form
geworden. »Für ihn ist alles mög-
lich
« (Marc. 10, 27; 14, 36). Es
ist eines der leitenden Gesetze des Uni-
versums, dass, indem wir der niederen
Gesetzeswelt entwachsen, wir durch
Kenntnis der höheren Gesetzeswelt zum
Lenker der niederen werden, denn in dem
Maße, als unsere Erkenntnis zunimmt,
können uns Kräfte unterthan gemacht
werden. Aus diesem Gesetz erklären sich
alle sogenannten Wunder Christi: seine
hohe Entwicklungsstufe machte ihn zum
Herrscher über die niederen, die Materie
beherrschenden Gesetze. Er selbst erklärt
seine Werke als für uns nicht unerreichbar:
»Wer an mich glaubet, der wird die
Werke auch thun, die ich thue, und wird
größere denn diese thun« (Joh. 14, 12).
Wie anders würden sich auch die Werke
der Yogi und Magier erklären lassen?
Gesetze, auch Naturgesetze, lassen sich
nicht umstoßen, sonst wären es eben keine
Gesetze; sehen wir also, dass ein Mensch
scheinbar Naturgesetze aufhebt und Wir-
kungen hervorbringt, die ihnen entgegen
sind, so kann er doch nur durch seine
Kenntnis der höheren Gesetze die in
ihnen liegenden Kräfte auslösen und
durch die Schleier der niedereren Ge-
setze hindurch in die Erscheinungsform
bringen. Kräfte, denen wir heute noch
unterstehen, werden wir in kommenden
Entwicklungs-Epochen lenken. Die Worte
Pauli: »Es ist noch nicht erschienen, was
wir sein werden«, sind doch so gut auf
unseren verkörperten als entkörperten
Zustand zu beziehen; denn der Körper
ist nicht eigentlich der umbildende Factor,
sondern der Geist, und dessen Entwicklungs-
stufe ist der Factor, der den Körper um-
bildet und Kräfte auslöst, die eben ge-
setzlich, in vergangenen Zeiten, durch
unsere niedere Entwicklungsstufe gebunden
waren.

Nach den Lehren der Theosophie
müsste das sich entwickelnde Leben einer
Welt, das stets von den älteren Brüdern

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 296, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0296.html)