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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 297

Text

GUMPPENBERG: DAS WESEN DES OPFERS.

geführt und geleitet wird, durch Ver-
sprechungen zu größeren, der niederen
Natur der Menschen peinlichen Anstren-
gungen angespornt werden. In der Lehre
der Juden war der Lohn einer guten
That materiell zu erwarten, Christus ver-
legte den Lohn in das Immaterielle. Das
Wort aber: »und all’ diese Dinge werden
euch dazugegeben werden« war nicht nur
ein Zugeständnis für die Auffassungs-
möglichkeit der Juden, sondern es streifte
auch karmische Gesetze.

Ferner: »Gott ist kein Gott der
Todten
, sondern der Lebendigen« ist
gleich: Ein annähernd reiner Gottesbegriff
lässt sich von den »Todten« — solchen,
denen die Materie noch genügt, die das
Sehnen nach Befreiung noch nie empfun-
den — nicht finden. Er ist ein Gott der
»Lebendigen« — solchen, die im Ewigen
die Ursache und das Endziel der Materie
gefunden, denen nur kann er sich von
Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe
immer klarer offenbaren. Ähnliches Gesetz
enthalten die Worte Christi: »Bittet, und
es wird euch gegeben werden, klopfet,
und es wird euch aufgethan!« Bevor die
Assimilationsmöglichkeit eines Men-
schen eintritt, erwacht dessen Sehnsucht
nach der Wahrheit oder dem Entwick-
lungszustand, deren Schwelle er jetzt er-
reicht hat. Wahres Gebet ist Sehnsucht,
wortlose Sehnsucht nach der Offenbarung
höherer Wahrheit, sobald wir eben die
Schwelle der Assimilationsfähigkeit dieser
Wahrheit betreten.

Von zwei Begriffen, welche Grund-
pfeiler sowohl des Christenthums als der
Theosophie genannt werden können, die
Begriffe: Opfer und Liebe, gibt der Ver-
fasser des Buches »Die Religion der
Zukunft« eine mich oft befremdende
Definition. Ich möchte versuchen, De-
finitionen, wie sie sowohl im Christen-
thum als in der Theosophie enthalten sind,
der seinen zur Seite zu stellen, denn das
Verständnis dieser Begriffe ist vor allem
nöthig zum Verständnis der Person Christi.

Th. Schultze sagt in seinem Buche,
Seite 41: »Von besonderer Bedeutung für
die Frage, ob die Gottesvorstellung Jesu
über dem Niveau derjenigen seiner Volks-
und Zeitgenossen gestanden habe, ist sein
Verhalten zu dem Opfercultus, namentlich

zu den blutigen Thieropfern. Denn gerade,
dass in dieser Hinsicht die jüdischen Vor-
stellungen und Gebräuche sich von heid-
nischen der Hauptsache nach nicht unter-
scheiden, beweist klar und deutlich, dass
ein Gott durch seine alleinige und bildnis-
lose Verehrung noch nicht besser wird,
als wenn er sich die Mitverehrung anderer
Götter und seine bildliche Darstellung
gefallen lassen muss.« Ist aber nicht die
Erkenntnis, dass alles Leben auf eine Ur-
quelle: Gott, zurückzuführen ist und dass
sich von diesem Gott kein Bildnis machen
lässt, doch ein Fortschritt in der Ent-
wicklung des Gottesbegriffes zu nennen?

Was aber die ganze Opferlehre der
Juden betrifft, so ist sie wohl nichts
anderes als die derbe Erscheinungsform
einer theils geahnten, theils von den
Lenkern der Entwicklung unserer Welt
geoffenbarten Wahrheit. Dass dieselbe
Lehre der Notwendigkeit eines Opfers
in vielen, wenn nicht allen Religionen
mehr oder weniger klar enthalten ist,
weist doch nur darauf hin, dass sie eine
mehr oder minder derb materialisierte
Wahrheit enthält. Ich möchte versuchen,
den Begriff Opfer nach der theoso-
phischen Lehre, sowie nach der Lehre
des Christenthums vergleichend nebenein-
ander zu stellen.

Annie Besant sagt in Cap. 10 von
»Die uralte Weisheit« (deutsch von Ludwig
Deinhard, Leipzig, Verlag von Th. Grieben):
»Das Studium des Gesetzes des Opfers
folgt naturgemäß aus dem Studium des
Gesetzes des Karma, und das Verständ-
nis des ersteren ist, wie einst von einem
Meister ausgesprochen wurde, für die Welt
ebenso nothwendig wie das Gesetz des
letzteren; durch einen Act der Selbst-
aufopferung wird der Logos für die Ema-
nation des Universums offenbar, durch
Aufopferung wird das Universum erhalten,
und durch Aufopferung gelangt der Mensch
zur Vollkommenheit. In jeder Religion,
die aus der uralten Weisheit entspringt,
bildet deshalb das Opfer die Hauptlehre, und
einige der tiefsten Wahrheiten des Occul-
tismus wurzeln in dem Gesetz des Opfers.«

Ein Versuch, für die Natur der Auf-
opferung des Logos ein, wenn auch nur
schwaches Verständnis zu gewinnen,
dürfte uns vor dem allgemein verbreiteten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 297, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0297.html)