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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 306

Text

SIGBJÖRN OBSTFELDERS »TAGEBUCH EINES GEISTLICHEN«.
Von DAVID SPRENGEL.

Im Sommer, als Alles grün und Sonne
und Fest war, als Luft und Licht die
Haut liebkosten, kam die Nachricht, dass
der fünfunddreißigjährige norwegische
Schriftsteller Sigbjörn Obstfelder geendet
hatte. Für Die, die ihn kannten, war es
keine Überraschung. Seine Persönlichkeit
hatte die letzten Jahre ein nur allzu deut-
liches Gepräge davon getragen, dass das
Ende nahe war. Ein gefährliches phy-
sisches Leiden hatte er schon geerbt, und
unbekümmert um alles von dieser Welt,
wie er stets gewesen, ließ er die Krank-
heit ungestört ihre Verheerung verüben.
Aber ergreifend und wehmuthsvoll war
die Todesnachricht für Die, die den noblen
Menschen und feinfühligen Poeten lieben
gelernt hatten. So früh eingeerntet zu
werden, ehe man viel von dem hat geben
können, was man gewollt und gekonnt
hat! Herniederzusteigen in das Unbekannte,
seines Lebens größtes Wort vielleicht
noch ungesagt auf den Lippen! Der-
gleichen murmelte man in der ersten
Bitterkeit, während man sich die Worte
von Lebenslust und Todesscheu ins Ge-
dächtnis rief, die er einst gefällt und die
nun ein düsteres Relief bekamen. »Man
darf nicht sterben, um Gotteswillen noch
nicht sterben! Es ist ja so viel, was man
hat und gegeben haben sollte und nicht
gegeben hat — man darf nicht sterben
— man hat nicht gesehen, wie die Dinge
aussehen, man hat ja nicht darnach ge-
hört, wie die Vögel zwitschern, es gibt
Linien in ihrer Hand, von denen man
nichts weiß!«

Aber als der Sensenmann kam und
ihn nahm, war er wohl kein Unwill-
kommener. Obstfelder war ein auch geistig
gebrochener Mensch. Er hatte sicher genug
bekommen von den Annehmlichkeiten hier
im Leben und wusste, wie viel diese wert
sind. Er war ein Tore Gam, er gehörte
zu Denen, die allzuviel von Anfang an
gehofft hatten, für die die Schönheit und

das Ideale Alles ist und die zu intensiv in
ihren Träumen leben, als dass nicht der
Tod eintreten muss, wenn die Enttäuschung
kommt. Es ist nicht angenehm, im Schlamm
zu schreiten, wenn man einmal entdeckt
hat, wie schmutzig der Weg ist. Nicht
umsonst hat Wigeland ihn von Angesicht
zu Angesicht mit dem Stein, dem Staub,
der Erde — den schwarzen Mächten des
Lebens — abgebildet. »Vielleicht muss
die Kunst bezahlt werden«, schrieb er
selbst in »Korset« (das Kreuz). »Vielleicht
muss das Prometheuswerk, um hier im
Reiche des Todes eindringen zu wollen in
des Allgottes eigenes Tabernakel, das
Heim der Harmonie, das Mysterium der
Schöpfung, vielleicht muss das gebüßt
werden mit des Titanen Schmerz und des
Titanen Entbehrung.« Es ist wenig wahr-
scheinlich, dass er productionsreich ge-
worden wäre, wenn er auch länger gelebt
hätte als diese fünfunddreißig Jahre. Wenn
man so wie er sich blind gestarrt hat in
die Augen der Sphinx, hat man nicht
weiter große Lust, Romane, Gedichte und
Märchen zur Freude für die Kinder zu
producieren — und auch nicht zu leben.

Für das literarisch interessierte Publi-
cum in Skandinavien war Obstfelder vor
allem bekannt als Verfasser des kleinen
Romanes »Korset« (das Kreuz). Es war eine
entzückende kleine Liebesgeschichte; die in
all ihrer Anspruchslosigkeit und Stillheit
viel enthält, was man nicht in den ge-
wöhnlichen Spielzeugbüchern findet. Ein
eigenthümlicher, inniger Ton gieng durch
diese ergreifende Novelle von des jungen
Träumers und des schon alternden Weibes
Liebe, von diesen Liebesmonaten am Meer,
diesen Spaziergängen an den langen
Abenden, wenn der Skalde ohne Unter-
lass seiner Geliebten von »der Menschen
Leben auf der Erde, von der Sterne
Tanz, von des Todes Heimlichkeit« spricht.
Wenn man dieses Buch las, dachte man
bisweilen an Almgrist. Wie dieser, gehörte

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 306, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0306.html)