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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 16, S. 319

Text

GUMPPENBERG: DAS WESEN DES OPFERS.

»aus Pflichten bestanden, die erfüllt werden
mussten«; und dazu, sie alle als bloße
Canäle für die Thätigkeit des Lebens zu
betrachten, die er der Welt schuldig ist,
nicht als eine Thätigkeit, die mit irgend
einem Verlangen nach ihren Resultaten
ausgeführt wird. So erreichte er den schon
erwähnten Punkt, auf dem das Karma,
das ihn zu den drei Welten hinzog, auf-
hörte, erzeugt zu werden, und er drehte
nun das Rad der Existenz nur darum
weiter, weil es gedreht werden soll und
nicht deshalb, weil dessen Drehung ihm
irgend etwas Wünschenswertes einbringt.

Die volle Erkenntnis des Gesetzes des
Opfers jedoch hebt den Menschen über
die mentale Ebene, auf der die Pflicht
als Pflicht erkannt wird, als »etwas, das
gethan werden muss, weil man es schuldig
ist« — hinüber auf die höhere Ebene
vom Buddhi, auf der alle Selbst als eins
gefühlt werden und alle und jede Thätig-
keit zum Nutzen Aller und nicht zum
Gewinn eines Sonder-Ich ausgeführt wird.
Einzig auf dieser Ebene wird das Gesetz
des Opfers als ein freudiges Vorrecht
empfunden und nicht mehr bloß intellectuell
als wahr und gerecht erkannt. Auf der
Ebene des Buddhi sieht der Mensch klar
und deutlich, dass alles Leben eins ist,
dass es beständig ausströmt als der freie
Erguss der Liebe des Logos und dass
das Leben, das sich absondert, bestenfalls
ein armseliges niedriges und oben-
drein nutzloses Ding ist. Von dieser
Ebene aus kann ein Mensch nur als einer
der Erlöser der Welt wirken, weil auf
ihr sein Selbst eins ist mit allen übrigen
Selbst. Identisch mit der Menschheit über-
all, wo sie eins ist, kann seine Stärke,
seine Liebe, sein Leben in jedes Sonder-
Ich hinabströmen. Er ist zu einer geistigen
Kraft geworden und die wirksame geistige
Energie des Weltalls hat sich durch das
Einströmen seines Lebens vermehrt. Die
Kräfte, die er auf der physischen, astralen
und mentalen Ebene zu verwenden pflegte,
um dadurch Dinge für sein Sonder-Ich zu
gewinnen, werden nun zu einem Act der
Aufopferung zusammengerafft und dadurch
in geistige Energie verwandelt, um sich
als geistiges Leben über die Welt auszu-
gießen. Diese Umwandlung wird durch
den Beweggrund bewirkt, der dann die

Ebene bestimmt, auf der die Energie frei
wird. Ist der Beweggrund eines Menschen
der, physische Dinge zu gewinnen, so
wirkt die freigewordene Energie nur auf
die physische Ebene; wünscht er astrale
Dinge zu besitzen, so lässt er auf der
Astral-Ebene Energie frei werden; sucht
er mentale Freuden, dann wirkt seine
Energie auf der Mental-Ebene; opfert er
aber sich selbst auf, um zu einem Canal
des Logos zu werden, so befreit er auf
der geistigen Ebene eine Energie, die
überall mit der durchdringenden Gewalt
einer geistigen Kraft wirkt. Für einen
solchen Menschen ist Thätigkeit und Un-
thätigkeit dasselbe, denn er thut alles,
während er nichts thut, und er thut nichts,
während er alles thut. Für ihn ist Hoch
und Niedrig, Groß und Klein dasselbe; er
füllt jeden Platz aus, der ausgefüllt werden
sollte, und der Logos ist derselbe an jedem
Ort und in jeder Handlung. Er kann in
jede Form übergehen, kann in jeder
Richtung arbeiten, und weiß nichts mehr
von Wahl oder Unterschied; sein Leben
ist durch Aufopferung eins geworden mit
dem Leben des Logos — er sieht Gott
in Allem und Alles in Gott. Wie könnte
für ihn Ort und Form irgend einen Unter-
schied ausmachen? Er identificiert sich
nicht mehr mit der Form, sondern ist
selbstbewusstes Leben. »Indem er nichts
besitzt, besitzt er alles,« indem er nichts
begehrt, fliesst ihm alles zu. Sein Leben
ist Seligkeit, denn er ist eins mit seinem
Herrn, der die Seligkeit ist, und indem er
die Form zum Dienen verwendet, ohne
an ihr zu hängen, »hat er dem Leid ein
Ende gesetzt«.

Es lag wohl in der Natur unserer
Entwicklung, dass die christliche Kirche
das Opfer des Blutes Christi zum
Fundament ihrer Lehre machte, und es
bleibt wohl kommenden Zeiten vorbehalten,
den Geist der Christlehre besser zu ver-
stehen. Die Auffassung, dass der Messias
durch einen qualvollen Tod den »Vater«
mit der Menschheit »versöhnen« musste,
konnte nur entstehen, weil im Judenthum
der Begriff eines Rache fordernden, eines
durch Leiden zu versöhnenden Gottes
zu festgewurzelt war, um gleich reinere,
höhere Gottesbegriffe zuzulassen. So blieb
es eben kommenden Zeiten vorbehalten,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 16, S. 319, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-16_n0319.html)