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zu verstehen, dass nach solchen Be-
griffen der Sohn höher stünde als der
Vater, der sich Opfernde höher als
der solches Opfer Verlangende. Das
Opfer Jesu muss esoterisch aufgefasst
werden, der Schwerpunkt ist im Ewigen,
nicht im Zeitlichen zu suchen. Das
Opfer eines hoch entwickelten Geistes
liegt nicht im Niederlegen des Körpers,
sondern im Niederlegen der Geistfreiheit
und Geistseligkeit, die er seiner Ent-
wicklungsstufe gemäß hat, um im Kerker
des Körpers den anderen Kerkerbewohnern
befreiende Wahrheit bringen zu können.
»Größere Liebe hat niemand, denn da
er sein Leben für seine Freunde nieder-
legt.« Für alle Solche, die sich noch mit
der Materie identificieren, ist es ein großes
Opfer, das materielle Leben niederzulegen.
Solches Wesen hat auch die Worte mit-
empfunden: »Tod, wo ist dein Stachel?
Grab, wo ist dein Sieg?« So sind auch
die Worte Christi zu verstehen: »Wer
sein Leben sucht, der wird es verlieren,
und wer es verliert um meinetwillen, der
wird es finden.« Wer sein Leben in der
Materie »sucht«, d. h. lieb hat, der wird
es verlieren, denn er ist an das große
Rad von Geburt und Tod gebunden; wer
versteht, es niederzulegen »um meinet-
willen«, weil er eben die Lehre Christi
von Liebe und Opfer verstanden, der
wird ebenso bereit sein, materielles Leben
wie die Herrlichkeit des Geistlebens nieder-
zulegen und wieder aufzunehmen, je nach
seiner Erkenntnis des großen »Gottes-
dienstes«, in den er sich gestellt hat.
Solches Wesen hat sein Leben »gefunden«,
d. h. er erkennt, was Leben heißt,
das Attribut wahren Lebens: Seligkeit
ist ihm geworden und kann ihm nie mehr
verloren gehen.
Wenn einmal die Wahrheit, dass wir
Kinder der Ewigkeit sind, dass der
irdische Tod nur ein Brechen der Form
ist, die Geburt aber für den hochent-
wickelten Geist das Niederlegen unaus-
sprechlicher Herrlichkeit bedeutet, wenn
diese Wahrheit zu unserer Über-
zeugung geworden ist, so wie die
Unsterblichkeit zur Überzeugung des
Sokrates, so können wir unter »Leben«
nur unser Geistleben verstehen und es
niemals mit seiner jeweiligen Form identi-
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ficieren. Solche Auffassung, die ein Ent-
wicklungsproduct ist, stellt sofort das
Opfer Christi in das rechte Licht. Das
Leiden ist gewissermaßen das Attribut
der Unvollkommenheit; diese verwandelt
sich zur Vollkommenheit, indem wir
Wahrheit erkennen und sie leben. Dazu
ist nothwendig, dass sie uns geoffen-
bart wird, und zwar in einer Form, die
innerhalb unseres Begriffsvermögens steht.
Um den Juden höhere Wahrheit zu lehren,
musste die neu geoffenbarte Wahrheit sich
an die früher geoffenbarte anlehnen. Wenn
ein Mensch ein kleines Kind belehrt, kann
die Art und der Inhalt seiner Lehre nicht
mit dem Maß seines Wissens identificiert
werden. Die Ursache der scheinbaren
Widersprüche in der Lehre Christi war
also nicht seine Unwissenheit, sondern
die Notwendigkeit, den Bedürfnissen ver-
schiedener Zeiten gerecht werden zu
müssen. Verschiedene Zeiten sind aber
verschiedene Entwicklungsmomente. Seine
Lehren mussten innerhalb des Begriffs-
vermögens der damaligen Juden bleiben
und doch die Lichtfunken enthalten, die
einer späteren Entwicklungsstufe zu leuchten
vermochten. Dass einer weiteren Ent-
wicklung weitere Lehren gegeben werden,
sagte er mit den Worten: »Ich habe
euch noch Vieles zu sagen, doch ihr
könnt es jetzt noch nicht ertragen. Wenn
er, der Geist der Wahrheit, wird ge-
kommen sein, wird er euch führen in
alle Wahrheit!«
Von dem Wort des zwölfjährigen
Knaben Jesu: »Wusstet ihr nicht, dass
ich in dem sein muss, was meines Vaters
ist?« (Luc. II., 49) bis zu dem einfach
großen Wort: »Es ist vollbracht! Vater,
in deine Hände befehle ich meinen Geist«,
liegt ein Leben, das die höchsten Gesetze
des Opfers und der Liebe offenbarte und
eine Lehre zurückließ, die trotz aller Ver-
knöcherungen, die sie im Laufe der Jahr-
hunderte dadurch erfahren musste, dass
die Menschen sich mehr mit der Materie,
als mit dem Geist identifizierten, eine
Lehre, die heute noch zu dem Sucher
spricht, der Ohren hat, zu hören.
Warum geben wir den Worten des
Meisters eine so enge Fassung, da doch
nur das Größte, was wir zu fassen ver-
mögen, ihnen gerecht werden kann? So
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