Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 344

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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 344

Text

AN AUGUST STRINDBERG.
Gedanken von GUYMIOT (Paris).

Das Universum ist gebildet wie der
Mensch; jedes Sonnensystem bildet
eines der Augen eines Adam Kadmon,
das auf seine Rechnung in den Unermess-
lichkeiten Akasas lebt.

Alles, was in unserem Sonnensystem
vorgeht, ist die Analogie dessen, was
in einem von unseren Augen vorgeht,
nicht mehr. Unter diesem Gesichtspunkte
werden die Bücher von Indien weniger
räthselhaft.

Unsere Augen athmen das Licht der
Umgebung ein; unser Sonnensystem
thut dasselbe für seine Umgebung; es
hat auch eine Pupille und einen gelben
Fleck, eine krystallinische Feuchtig-
keit und Pigmentzellen, welche das
durch die Netzhautwände reflectierte
Licht verschlucken.

Unser Sonnensystem schickt Licht-
eindrücke nach einem unbekannten
Gehirn, welchem es als Instrument des
Rapports mit seiner Umgebung dient.

Wir bewohnen ein Auge von Adam
Kadmon, nicht mehr, und in diesem
Auge das kleine Organ, das die Erde
ist. Was ist dieses Organ?

Vielleicht eine Zelle des Trauben-
häutchens, das in der Nähe der
Pupille liegt.

Was wunderbar am Menschen ist,
das ist sein natürliches Geschick, zu
denken, er sei das Centrum des Uni-
versums, das für ihn ganz allein ge-
schaffen worden sei.

Es ist ebenso sehr Wahres in dieser
Meinung, weil Alles solidarisch ist;
allein es wäre nöthig, sie durch eine
andere Ansicht zu completieren: wenn
alles für den Menschen geschaffen ist,
so ist der Mensch auch für das Ganze
geschaffen, von dem jeder andere Theil
auch central ist wie er.

In der Sonne gibt es soviel Licht,
dass man das Mysterium des Lichtes,

das so intim mit dem Mysterium des Auges
verbunden ist, nicht begreifen kann.

Um das Licht kennen zu lernen,
muss man seine reflectierten Strahlen-
bündel betrachten. Mit Aufmerksamkeit
wird man nicht die Producte seiner
Einbildung sehen, wie die sensitiven
Visionäre, sondern die Constitution des
Lichtes oder wenigstens seiner Art, sich
zu manifestieren.

Man muss betrachten ohne vorge-
fasste Idee, einzig um zu sehen, sonst
sieht man seine Idee, was der Fall
ist bei allen Visionären.

Die gewöhnliche Vision geschieht
durch die Superposition der Phänomene,
welche in den beiden Netzhäuten pas-
sieren; diese Phänomene sind nicht
identisch und sind trennbar. Man kann
deutlich die leuchtende Scheibe des
rechten Auges und die leuchtende
Scheibe des linken Auges sehen.

Jede Scheibe ist die Projection einer
Sphäre und mit Aufmerksamkeit unter-
scheidet man die beiden Substanzlager,
von denen jedes das Theater der eigenen
Phänomene ist.

Was im menschlichen Auge ge-
schieht, geschieht auch im Auge des
Adam Kadmon. Durch das Spiel des
Lichtes in unserem Auge — immer
dasselbe — können wir das Spiel des
Lichtes im Kosmos studieren; die
natürlichen Phänomene sind Wieder-
holungen ad infinitum, wie die Zahlen
Wiederholungen der zehn Ziffern sind,
die sie ausdrücken; die Naturgesetze
sind die regulären Serien der Zahlen;
die Wunder sind der Begriff einer
Zahl, unabhängig von der Serie, welcher
sie angehört; es gibt keine Zahlen,
welche nicht einer Serie angehören.

Die Farben sind die Rinden des
Lichtes, der purpurschwarze Fleck ist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 344, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-18_n0344.html)