Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 349

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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 349

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BAILLY: DIE MELOMANIE DES DICHTERS VILLIERS DE L’ISLE-ADAM.

Schrei-Äußerungen hervorbringen, die (da
sie sich selbst nicht verstehen) dem Volke
fürwahr nur wie ein unzusammenhängen-
des Geschrei erscheinen müssen. Der
wahre Künstler, der Künstler, der da
schafft, vereinheitlicht und umbildet, muss
also die beiden unlöslichen Gaben be-
sitzen: das Wissen und den Glauben.
Was mich betrifft, so nehmen Sie, da Sie
mich fragen, zur Kenntnis, dass ich vor
allem andern Christ
bin und dass die
Accente in meinem Gesammtwerke, die
auf Sie Eindruck machen, ihrem Ursprunge
nach nur durch dies allein inspiriert
und geschaffen wurden.«

Dies ist der genaue Sinn der Antwort,
die mir Richard Wagner an jenem
Abende ertheilt hat — und ich glaube
nicht, dass Frau Cosima Wagner, die
zugegen war, sie vergessen hat.

Der größte Theil des Villiers’schen
Wagner-Artikels ist im Obigen wieder-
gegeben.

Noch ein anderer Aufsatz Villiers’ ist
in meinen Händen: der Artikel, den er
über das Compositionstalent der Made-
moiselle Auguste Holmès geschrieben und
veröffentlicht hat. Es ist das mehr eine
bibliographische Studie, als eine musik-
kritische Arbeit schlechthin. Da sie sehr
umfangreich ist, kann ich aus ihrem
Inhalt leider nur einige Stellen, die unser
Thema berühren, und eine recht merk-
würdige Wagner-Anekdote anführen.
Desgleichen lasse ich die Schilderung des
ersten Besuches fort, den Villiers der
interessanten Musikerin in Versailles ab-
gestattet. Der Dichter erzählt also u. a.:

»An diesem Abende hörten wir orienta-
lische Melodien, die ersten Harmonie-Ge-
danken des nämlichen Geistes, der später
die »Argonauten«, »Lutetia«, »Irland« und
»Polen« geschaffen hat; schon diese
schienen mir von der überkommenen
Schablone unserer alten Musik fast ganz
and gar frei. Auguste Holmès war mit
einer intelligenten Stimme begabt, die sich
allen Registern anzupassen wusste und
selbst die geringfügigsten Absichten jedes
Werkes zur Geltung brachte. Im allge-
meinen bin ich misstrauisch gegen geschickte
Stimmen, die oft den Wert mittelmäßiger

Compositionen — dem Publicum zu
Dank — durch umbildende Kunst er-
höhen; hier aber war das Kunstwerk an sich
der Interpretation würdig, und so konnte ich
»La Sirène«, »La Chanson du Chamelier«
und »La Chanson du Pays des Rêves«
bewundern; durch die irländischen Hymnen
rief die junge Virtuosin die Vision ferner
Forste, Fichten und Haiden in unserem
Geiste wach. Die Soirée wurde mit einigen
Bruchstücken aus »Lohengrin« be-
schlossen. Wagners Werke waren da-
mals eben in Frankreich erschienen, und
Saint-Saëns weihte uns in ihre Wunder
ein, denn — abgesehen von einigen sel-
tenen Darbietungen in den Concerts popu-
laires
— war uns der gewaltige Meister
nur auf literarischem Wege, und zwar in
den anregenden Artikeln Charles Baude-
laires
begegnet. Der Effect dieser Musik
war nun der, dass sie unsere neue Musikerin
sofort zu leidenschaftlicher Begeisterung
hinriss. In der Folgezeit ließ ihre Bewun-
derung für den »Tristan- und Isolde«-
Zauberer niemals nach. Zwei Monate vor
dem deutschen Kriege traf ich sie in Trieb-
schen nächst Luzern bei Richard Wagner
selbst. Ihr Vater hatte sich trotz seines
hohen Alters zu dieser weiten Reise ent-
schlossen, um der jungen Componistin das
Studium des ersten Theiles der »Nibe-
lungen« zu ermöglichen.

»Weniger Zartgefühl für meine Person,
mein Fräulein! « sagte ihr Wagner,
als sie ihm mit der hellseherischen und
prophetischen Aufmerksamkeit des Genies
zugehört. »Für die lebendigen und schö-
pferischen Geister will ich nicht ein
Manzanillo-Baum sein, dessen Hauch die
Vögel erstickt. Ein Rathschlag: Hängen
Sie keiner Schule an, am wenigsten
der meinen

Richard Wagner wollte nicht, dass
man das »Rheingold« in München auf-
führe. Obzwar die Partitur bereits publi-
ciert war, weigerte er sich, das Werk
selbständig und losgetrennt von den drei
übrigen Theilen der »Nibelungen« dar-
stellen zu lassen. Sein großer Traum (den
er ja inzwischen in Bayreuth realisiert
hat) war es stets, eine Gesammtaufführung
dieses Lebenswerkes an vier Abenden ver-
anstalten zu können. Aber die Ungeduld
seines jungen, fanatischen Bayernkönigs

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 349, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-18_n0349.html)