Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 350

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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 350

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BRYK: OBJECTIVE MUSIK-FORMEN.

hatte es anders gewollt: man bereitete
die Aufführung des »Rheingold« auf
königlichen Befehl vor. Wagner aber, der
jede Antheilnahme und jede Aufklärung
verweigert hatte und durch die Art
und Weise, in der man die Einheit
seines umfassenden Meisterwerkes zerstören
wollte, in Unruhe und Trauer versetzt
war, verbot seinen Freunden, der Auf-
führung beizuwohnen. So kam es, dass
mehrere Musiker und Literaten, unter
denen auch ich mich befand, die zweimal
die Reise nach Deutschland zurückgelegt
hatten, um die Musik des Meisters zu
hören, nicht recht wussten, ob sie ge-
horchen sollten. Der Befehl war grau-
sam.

»Ich werde alle Jene als Feinde be-
trachten, die dieses Massacre durch ihre
Anwesenheit ermuthigen sollten,« sagte
er uns.

Mademoiselle Holmès, die sich durch
diese Drohung zur Unterwürfigkeit ge-
zwungen sah, war verzweifelt.

Aber die Briefe des Kapellmeisters
Hans Richter, der das Münchener
Orchester leitete, beruhigten Wagner ein
wenig; sein Unwille sänftigte sich den
begeisterten Zeloten gegenüber, und man
benützte diese versöhnliche Stimmung,

um — quand même — heimlich hinzu-
fahren.

Vor meinen Augen liegt ein Schreiben
Wagners, der gleichwohl noch immer
erbittert war. Darin theilte mir der Meister
aus München mit: »Also Sie werden
nun bald bewundern, wie man sich
mit mannhaften Werken amüsiert! Nun
denn, ich rechne, trotz alledem, auf einige
Stellen dieses Werkes, die nicht zu
verderben sind
und das retten können,
was davon nicht verstanden werden kann!«

Die Befürchtungen Wagners sind
durch den glänzenden Triumph des
»Rheingold« widerlegt worden. Das Werk
wurde mehr geahnt, als wirklich gesehen,
da es ja erst durch die drei übrigen
Theile der »Nibelungen«, deren Schlüssel
es ist, vollkommen verständlich wird. Alle
Anhänger waren zugegen, trotz der Dro-
hung und des Verbotes, und ich erinnere
mich, an diesem großen Abende in der
ersten Reihe der vornehmsten Gallerie
Mademoiselle Auguste Holmès gesehen zu
haben, die an Abbé Liszts Seite die
»Rheingold«-Aufführung in der Orchester-
Partitur ihres berühmten Nachbars ver-
folgte.«

Soweit Villiers de l’Isle-Adam in
seinem Artikel.

OBJECTIVE MUSIK-FORMEN.
Von OTTO BRYK (Wien).

Das culturgeschichtliche Ziel der Wissen-
schaft ist nicht die Beschreibung der ein-
zelnen Dinge und die Zusammenfassung
zu höheren Artbegriffen, sondern das Auf-
decken der Bedingungen, unter welchen
wir zur Kenntnis, zur Erkenntnis gelangen.
Eine glückliche Anordnung der Dinge ge-
stattet uns, zu den Quellen der Erkenntnis
aufzusteigen, von denen aus der Zusammen-
hang zu sehen ist, der das Bedingende
an das Bedingte knüpft. Auch die Kunst-
wissenschaft wird diesen Weg zur Er-
forschung der primären Bedingungen gehen
müssen; sie muss mit der bequemen
historischen Methode brechen und die

nüchterne statistische Methode der heutigen
Beobachtungskunst anwenden lernen, um
die Function der Receptivität erklären zu
können. Darüber hinaus — bis zum Ver-
ständnisse des Genies — zu gelangen, ist
ohnehin kaum ihre Aufgabe.

Durch die neuere Psychologie ist der
Begriff des Gefühles wieder zu Ehren
gelangt. Das Bewusstwerden der elemen-
tarsten Reactionen ist der Analyse zu-
gängig, beobachtbar und schon deshalb
allein Object der Wissenschaft. Von hier
aus gewinnen wir den Weg zur Definition
des künstlerischen Gefühles und der künst-
lerischen Befähigung. Wenn — einem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 350, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-18_n0350.html)