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Axiom der Mechanik zufolge — die Action
stets von der Reaction gefolgt sein muss,
so erscheint das Gefühl als bedingte Re-
action der Activität der Natur. Man wird
daher vermuthen dürfen, dass diese Welt
der Reactivität ihre eigenen Gesetze be-
sitzt, deren wir uns aber zum Unterschiede
von den Verstandesgesetzen niemals be-
wusst werden können.
Der richtige Weg zur Erforschung
dieser merkwürdigen Gesetzmäßigkeit be-
steht also nicht darin, eine aprioristische
Functionenlehre aufzustellen, sondern
gleichsam empirisch den ästhetischen Effect
zu beobachten und auf die stets wieder-
kehrenden Gefühlselemente hin zu analy-
sieren. Auch aus einem anderen Grunde
können die Mittel der Kunst, deren Unter-
suchung eben die Quellen der künstlerischen
Receptivität auffinden lehrt, niemals objectiv
giltige Bedeutung erlangen. Es ist dies
der sensuale Weg, den jede Erscheinung,
mithin auch das Darstellungsmittel, noth-
wendig nehmen muss. Trotzdem darf man
in einem gewissen Sinne den Darstellungs-
mitteln objective Giltigkeit zuerkennen,
wenn man den Genius (das Product gün-
stiger Artkreuzung) als Menschen betrachtet,
dessen Apperceptions-Apparat dem anthro-
pologischen Mittelwerte entspricht. Da
man in dieser Auffassung leicht eine
Unterschätzung der genialen Denkart er-
blicken könnte, sei noch Folgendes hinzu-
gefügt: Nicht die Art, zu schaffen oder zu
schauen, sondern das Sinnensystem des
Künstlers in seiner Totalität entspricht
dem arithmetischen Mittelwerte der sen-
suellen Activität.
Schreiten wir nunmehr zur Darlegung
einer Auffassung kosmologischen Charakters.
Die Natur in der Vielheit ihrer Actionen
zu zeigen, ist Aufgabe der Wissenschaft;
die Natur in ihrem Reflex auf das
menschliche Bewusstsein, das heißt die
Reaction der Weltaction, vorzuführen, ist
Sache der Kunst, wobei wir uns über die
Dignität und den besonderen Wert beider
nicht im einzelnen expectorieren. Es ist
der Naturwissenschaft im Vereine mit der
Erkenntnistheorie des XVIII. und XIX.
Jahrhunderts gelungen, einen Satz von
universeller Giltigkeit aufzustellen, der die
nothwendige Bedingung jedes Geschehens
kategorisch aussagt — die Lex parsimoniae
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naturae des Linné und Maupertuis, das
Gesetz von der Constanz der Energie des
Robert Meyer und Hermann Heimholtz.
Es lässt sich leicht deducieren, dass dieses
Axiom, ohne sinnlos zu werden, auch auf
die Thätigkeit des künstlerischen Genius
angewendet werden darf — selbstverständ-
lich nur insoferne dieser Künstler als der
Erzeuger objectiver Darstellungsmittel
betrachtet wird. Die Idee des Kunst-
werkes gehört einer intelligibeln Welt an,
innerhalb welcher das vorerwähnte Princip,
wie jedes andere, die Erfahrung regu-
lierende Axiom, bedeutunglos wird. — Das
Kunstwerk gehört der Menschheit an,
welche dieses zunächst als eine neue Er-
scheinung aufnimmt. Der Umkehrung der
Processe entsprechend, ist die recipierende
Menschheit berechtigt, dem minimalen
Energie-Aufwand beim Geschehen die
Forderung eines minimalen Energie-Auf-
wandes für den Zustand des Aufnehmens
entgegenzustellen. Geschehnis und Dar-
stellung entsprechen einander reciprok.
Hiedurch wird auch klar, weshalb im An-
fang dieser Betrachtung dem Künstler
ein Sinnencomplex zugesprochen wurde,
der dem anthropologischen Durchschnitts-
werte entspricht. Denn die Welt steuert
seit dem Chaos Zuständen (Gleichgewichts-
lagen) entgegen, deren Veränderung nur
nach diesem Princip erfolgen kann. Auf
biologischem Gebiet entspricht dieser Idee
die Ausbildung nicht differenzierter Organe
zu Sinnesorganen specifischer Erregbarkeit.
Dass diesem Zustande ein Anwachsen der
Lustwerte zugeordnet sei, ist die schöne
und große Hypothese Theodor Fechners.
Auf empirischem Felde ist der Nach-
weis dieses Sachverhaltes bisher nur für
die objectiven Musikformen durch H.
Helmholtz geleistet worden. Bezüglich
der grundlegenden Versuche und Unter-
suchungen muss auf dessen Hauptwerk:
»Die Lehre von den Tonempfindungen« ver-
wiesen werden. Hier ist gezeigt worden, wie
den von den alten Meistern und Begründern
unseres Harmoniesystems aufgestellten
Gesetzen innere, natürliche Wahrheit zu-
kommt. Hiebei handelt es sich nicht bloß
um die völlig befriedigende Erklärung des
Dur- und Moll-Dreiklang-Problems, sondern
auch um die psycho-physikalischen Gründe
des Quinten- und Octaven-Verbotes, der
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