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feinen Klangwirkungen in enger und zer-
streuter Harmonie, der Umwandlung der
alten Kirchen-Tonarten in die neuen Ton-
geschlechter mit diatonischem und chroma-
tischem Aufbau, endlich um die Ge-
heimnisse der Stimmführung.
Betrachtet man die in dieser Arbeit
niedergelegten Entdeckungen als allgemein
giltige Wahrheiten, so eröffnet sich von
hier ein weites Feld für künftige Unter-
suchungen auf dem Gebiete einer ernst
zu nehmenden Musikpsychologie. Es sei
hier — scheinbar sprunghaft — auf das
so eigenthümlich Tröstende der Musik
hingewiesen, worin schon die Pytha-
goräer die primärste Wirkung dieser
Kunst erkannt haben. Dieses Tröstende,
Beruhigende, in das Gefühl der vollkom-
menen Sicherheit Versetzende findet sich
überall dort, wo die Grundverhältnisse
unseres westeuropäischen Musik- und
Harmoniesystems durch die entsprechende
Accentuierung dominierend in einer melo-
dischen Abfolge hervortreten. Hierauf beruht
auch die mächtige Wirkung des Chorales.
Verwoben in das melodische Continuum,
welches eben eigentlich dem Individuum,
dem intelligiblen Principe angehört, treten
die für unser Musiksystem constitutiven
Intervalle an die Oberfläche und versetzen
hiedurch das aufnehmende Subject in einen
Zustand, in welchem es sich des Gebunden-
seins an die subjectiven Formen der musika-
lischen Apperception bewusst wird. Der-
artige Melodien haben daher nicht bloß
im überschwänglich-sentimentalen Ge-
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brauche dieses Wortes, sondern wirklich
einen tröstenden Charakter. Sie bringen
nicht durch Begriffe, sondern durch die
Formen der Sinnlichkeit, also die innere
Anschauung, das reciproke Verhalten der
Welt und des Individuums zum Bewusst-
sein.
Die weitere Anwendung dieser Auf-
fassung ergibt sich von selbst. Wie es
Grundlagen der Harmonie gibt, so gibt
es auch Grundlagen des rhythmischen Fort-
schreitens (im Zusammenhange stehend
mit der Rhythmicität des Blutkreislaufes).
Wer ein aufmerksames Ohr hat, findet
die Wahrung dieser rhythmischen Haupt-
verhältnisse im compliciertesten polyphonen
Aufbau deutlich heraus. Die sonderbar
rhythmisierten Fugen-Themen Bachs, die
mächtigen Octavenschritte in den Sym-
phonien Beethovens, die durchsichtige Drei-
klangs-Welt der Mozart’schen Stimm-
führung gehören hieher. Aber vielleicht
bedeutet diese Auffassung die Superiorität
der Kunst. Denn die Wissenschaft geht
über den Inhalt der Wahrnehmung nicht
hinaus. Es ist ihr Ziel erreicht, wenn sie
das Geschehen in die indiscutable Formel
gebracht hat, wenn sie gesetzmäßig ge-
zeigt hat, wie »die reine Vernunft mit
nichts als mit sich selbst beschäftigt ist,
und auch gar kein anderes Geschäft haben
kann«. Das Kunstwerk aber, nachdem es
uns (wohl nicht durch logischen, sondern
durch psychologischen Zwang) zu diesem
Bekenntnis genöthigt hat, eröffnet von
hier aus erst sein Wirken.
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