Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 355

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 355

Text

WEISS: HANS VON MARÉES.

gemeinsamen Abschluss bildete, war
mit Kränzen ausgeschmückt. Diese
Arbeit war, ehe sie Marées mit Firnis-
farbe übergieng, von einer solchen
Schönheit, dass sich niemand, der sie
in diesem Zustand gesehen hat, ihrem
Zauber entziehen konnte. Die Kinder
an den Säulen, in decorativem Sinne
gemalt, so frisch und lebendig und,
trotz der bloßen Ei-Tempera, von einer
solchen Kraft der Erscheinung, dass sie
sich dreist neben die besten Leistungen
der Bologneser Schule stellen konnten.
Die Figuren der Bilder aber konnte
man schlechthin mit nichts ver-
gleichen. Man konnte sich nur vor-
stellen, dass etwa die griechischen
Meister, denen die pompejanischen
Handwerker ihre Darstellungen ent-
lehnten, ähnlich gemalt haben müssten.

Genau dasselbe war im Winter
1884/85 mit dem dreitheiligen Hespe-
ridenbilde der Fall, welches in den
Fiedler’schen Lichtdrucktafeln die Num-
mern 5 und 6 trägt. Nur kam hier die
Kunst Marées’ in ihren rein bildneri-
schen Absichten noch voller und klarer
zum Ausdrucke.

Und diese in ihrer Art ganz gewiss
einzigen Leistungen sind für immer
dahin! — Wer mag über dieses merk-
würdige und tieftraurige künstlerische
Phänomen urtheilen? — Marées duldete
keinen Einspruch in sein Gebaren.
Das Urtheil Anderer, mochten es seine
treuesten und ergebensten Freunde und
Anhänger, ja mochten es bewährte
Künstler sein, war kein Maßstab mehr
für ihn. Denn »für das künstlerische
Verständnis«, pflegte er zu sagen,
»gibt es nur ein vollgiltiges Zeug-
nis: die gleichwertige künstlerische
Leistung.« (P.)

Wir stehen vor diesen Bildern, die
nach diesem Urtheil als Ruinen anzu-
sehen sind, wie vor Offenbarungen.
Die Unmöglichkeit, das einmal Erreichte
durch weitere Arbeit (in Ölfarben) noch
höher zu steigern, war der Grund der
späteren Geistestrübung Marées und
der Keim seines Unterganges. Er war
ein Opfer der Probleme, die er sich
selbst gestellt hatte.

Seine Bilder entstanden zur Zeit
der allerödesten »Münchenerei«, und
später zu der Zeit, als in Deutschland
das Feuer ausbrach, dessen Funken
der französische Realismus herüber-
geblasen hatte, dem im Grund nur
Puvis und Böcklin fernstanden. Puvis,
der wunderbare Decorateur, der seine
Harmonien in zwei, drei Tönen auf-
baut, als Fläche, wie die Mauer es
gebot, fast schattenlos, und Böcklin,
der, als Freiester unter den Lebenden,
in seinen Auferweckungen alter Geister
lebte, die er mit den unerhörtesten
Zaubereien der Technik in eine helle
»moderne« Atmosphäre setzte, deren
Probleme er als Mittel zum Zweck
löste, lange, bevor die Franzosen ihre
Darstellung sich zum Ziel machten.
Zur selben Zeit Marées, schul-los,
traditionslos, frei von Zeit und Ort,
eine Welt offenbarend, deren vitale
Schönheit sich genug ist, um sich
ohne erklärende, rechtfertigende Anek-
dote oder irgend ein Sentiment zu
zeigen. Es sind, im Grunde genom-
men, Stilleben, die er malt, die die
Objecte malerischer Darstellung in
reinster und absichtslosester Form
zeigen, Stilleben von schönen Körpern
in schönen Landschaften, so sich selbst
genug, wie die edlen Stilleben von
Früchten des Cézanne. Jeder Körper,
Greis, Mann, Jüngling, Kind, Weib,
Ross, Baum, Wolke, redet für ihn
allein genug. Jeder soll das sagen, was
nur er sagen kann, durch seine Natur,
und soll durch höchste Reinheit seiner
Einzelnatur dem Ganzen stumm, ab-
sichtslos
dienen.

Ich fühle, er hat, obwohl nichts
weniger als ein Techniker in dem
Sinne, den man gewöhnlich mit diesem
Wort verbindet, am meisten von allen
Malern, den darzustellenden Gegenstand
aus dem Material herausgefühlt, das heißt
aus dessen Bestandtheilen und einander
ergänzenden Mitteln, complementären
Klängen, Dichtigkeiten und Dünnflüssig-
keiten, alle Rundungen, Wölbungen,
Flächen und Ecken der Körper aufge-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 355, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-18_n0355.html)