Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 359

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 359

Text

WEISS: HANS VON MARÉES.

Aussage Pidolls, auch die Ölfarbe durch-
aus in demselben Sinne wie die Tempera-
farbe und den Stift, nämlich zeichnerisch,
indem er auch Farbflächen durch
Accumulation von zeichnenden Strich-
lagen herstellte. Aber er fand hier im
Material wiederum Widerstände, die sich
seinem Verfahren widersetzten. Das
Firnissen verwandelte das Oberflächen-
licht der Tempera-Farben in »trans-
parente Qualitäten«, die eine eingehende
Umarbeitung des Ganzen erforderten.
»Hiebei mussten die Bilder Zustände
durchlaufen, welche mannigfach mit
Zerstörung verbunden waren, wenn sie
in abermaliger, der lebensvollen Wir-
kung, zu neuer Schönheit auferstehen
sollten.« (P.) »Es scheint, dass er nach
der Lösung des Problems suchte, die
Eigenart einer Wandmalerei in antikem
Sinne mit den von der italienischen
Renaissance entwickelten glänzenden
Qualitäten der Ölmalerei zu ver-
schmelzen. Sein rastlos strebender und
suchender, niemals befriedigter künst-
lerischer Wille mochte ihm ein Neues,
Höheres vorhalten.« (P.)

Dies Neue, Höhere strahlt uns auch
aus den Ruinen, oder, wenn man will,
den halbfertigen Bauten seiner Bilder
an und lässt uns die traurigen Ver-
unstaltungen, das Unfertige, Chaotische
des Ausdrucks vergessen.

Wie sinnlos haben hier rein zufällige,
äußere Bedingungen innere Notwendig-
keiten kurz vor ihrer Geburt und damit
ihrer Erfüllung und Vollendung zerstört!
Das höchste Leben des Menschen: die
fraglose Einheit mit der Natur, die ihn
umgibt, hat hier seinen höchsten und
fraglosesten Ausdruck gefunden. Wer,
außer Lionardo, hat jemals dem Erfassen
und der Darstellung einer solchen
Harmonie von Mensch und umgebender
Natur so nahe gestanden wie Marées?
Es ist jene paradiesische Einheit, deren
Schönheit der Zusammenhang aller
Lebewesen in ungetrübter Natürlichkeit
ist, die den Franzosen Ganguin zu den
»Wilden« nach Tahiti getrieben hat.

Die Sehnsucht nach ihr ist der Grund
aller Fluchten des Einzelnen aus dem,
was ihm unschön, weil naturwidrig,
erscheint. Diese Sehnsucht hat Ganguins
tahitische Gemälde geboren. Er geht
zu den nackten, dunklen Wilden, unter-
liegt so wiederum dem Zwang örtlicher
Erscheinungen in Körperform, Farbe,
Kleidung und Umgebung. Diese Südsee-
menschen zeigen ihm in Blick und
Geberde eine zwar verhüllte, aber deut-
lich durchschimmernde, paradiesische
Menschenform; Marées aber hat diese
aus sich selbst und der Harmonie seiner
Natur geboren und den letzten zufälligen,
äußeren Zwang überwunden. Seine
»Drei Jünglinge«, der sitzende, der am
Boden hockende und der stehende, der
in die Zweige des Baumes greift, sind
das absolut Reinste, Geschlossenste,
in sich Vollendetste und Fertigste,
was in der neuen Kunst überhaupt
existiert, ebenbürtig dem Höchsten,
das jemals geschaffen worden. Sie
offenbaren nichts außer sich, sie offen-
baren absichtslos sich selbst! Was hat
da das Unfertige der Mache noch zu
sagen!

Wie Böcklin gerade in den wunder-
barsten Darstellungen der Erscheinungen
der Dinge triumphiert, er, dem kaum
ein Ding auf Erden das Geheimnis
seiner Existenz verheimlichen konnte,
so bleibt er anderseits zumeist bei
der gegenständlichen Beziehung seiner
Formen untereinander stehen. Er sagte
über Marées’ Unzufriedenheit, »dass er
zu hohe Anforderungen an Andere stelle
und infolgedessen strengere Kritik
befürchten müsse. Dann vergesse er
auch, dass man ein Bild nicht der
Farbe oder einer malerischen Wirkung
wegen, sondern der Sache selbst wegen
male.«* Hier haben wir den Unterschied
und sehen, dass auch Böcklin, dieser
Äußerung nach, nicht dem folgte und
das nicht kannte, was Marées wollte.
Er (Böcklin) malte also, was er wollte,
um der Sache selbst willen, d. h. um
des Gegenstandes, der gegenständ-
lichen Beziehung des Dargestellten
unter sich willen. Es unterliegt

* Schick: »Tagebuch-Aufzeichnungen«, S. 40.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 18, S. 359, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-18_n0359.html)