Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 16
Text
Die Wirkung, die eine politische Idee hervorzurufen
imstande ist, wird bedingt durch den Gehalt einer Zeit und
die Mischung, welche in der den politischen Gedanken auf-
nehmenden Individualität jeweilig vorherrscht.
Ein reiner politischer Gedanke ist für den praktischen
Gebrauch nicht haltbar; es müssen ihm Ingredienzien bei-
gemengt werden, welche rasch an seine Consequenzen-
peripherie befördern und ermöglichen, seinen Umfang leicht
zu umkreisen. Dem Gedanken dient als Vehikel das Tempera-
ment. Unter politischem Temperament versteht man die Eigen-
schaft, eine Sache so vorzubringen, dass in Anderen zugleich
individuelle Nebenvorstellungen entstehen; diese dienen als
treibende Kräfte für das Aufgenommene und erzeugen so-
viel Temperament, als für den Gegenstand nöthig ist: das
politische Temperament des Einen erzeugt Gebrauchstempe-
rament in Anderen. Die Lebhaftigkeit, mit der ein politischer
Gedanke in die Oeffentlichkeit getragen wird, ist für seine
fruchtbare organische Weiterentwicklung von entscheidender
Bedeutung. Im politischen Leben geht der Producent eines
fruchtbaren Gedankens, wenn er nicht das den Umständen
entsprechende Temperament aufzubringen vermag, der Ver-
breitung dieses Gedankens verlustig. Der Gedanke bleibt so
lange steril, bis eine Persönlichkeit entsprechendes Tempera-
ment für ihn aufbringt; diese gilt dann als der eigentliche
Urheber. Es kommt also in der Politik weniger auf die Pro-
ducirung neuer Gedanken an, als vielmehr auf die Lebhaftig-
keit, mit welcher sie gebracht werden.
Jeder Gedanke hat aber die Lebhaftigkeitsgrenze in
sich. Das Temperament muss die Kraft haben, sich wohl-
berechnet zu dosiren, sich zu bändigen bis zur Ruhe und
aufzuschnellen bis zur Ekstase.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 16, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0016.html)