Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 17
Text
Am Ende einer Zeitepoche, wie sie die unserige ist,
kommen alle politischen Ideen und alle Menschentypen der
ganzen Epoche, auch solche, die längst überholt zu sein
schienen, wieder zum Vorschein, wie lange auf dem Grunde
liegende Ertrunkene durch eine Strömung an die Oberfläche
gelangen. Dem alten Gedanken erstehen alte Anhänger.
Wird er nun gar mit einem Ingredienz aus dem Zeitinhalt
vermischt, welches die Individualitätsmixtur in den Gegen-
wartsmenschen derart zersetzt, dass bei ihnen ein Gedanken-
rückschlag eintritt, so wird er vollends das politische Ober-
wasser bekommen. Da ein alter politischer Gedanke an sich
ein kleines Lebhaftigkeitsmaximum hat, so muss derjenige,
der ihn aufgreift, ein die abgelebte Idee weit überschäumendes
Temperament besitzen.
Jeder Gedanke fordert von demjenigen, welcher ihn
aufnehmen soll, ein entsprechendes Gebrauchstemperament.
Wird beim Hörenden mehr Lebhaftigkeit in Action gesetzt,
als der objective Werth der Gedankenäusserung erfordert,
so kommt der Mensch in leere Aufregung. Ein Zustand, auf
den es Demagogen bei der Menge abgesehen haben. Sieht
sich ein derartiger Politiker nun Gegnern gegenüber, die,
wenn auch mit besserem Gedankenmaterial versehen, ohne
adäquates Temperament auftreten, so hat er leichtes Spiel.
Denn wird beim Hörenden weniger Temperament in Action
gesetzt, als ein Gedanke jeweilig erfordert, so mangelt
die Kraft, ihn aufzunehmen; er beschwert, die er klären
sollte.
Der durchschnittliche Temperamentsgrad von Massen ist
schwer festzustellen. Das Unbildungstemperament ist trü-
gerisch und verschwindet sofort in einer höheren Geistes-
region. Es hat wenig Tragkraft und bedarf einer leichten
politischen Kost. Anderseits muss es doch ein wenig über-
lastet werden, sonst geht es auf Gedankenraubzüge aus und
wirft sich wahllos auf das Zufällige. Nur bei Hochstehenden
ist das Temperament latent und wartet auf den Gedanken.
In der Regel bedarf das Temperament der Menschen einer
Belastung. Revolution und Verbrechen sind Erscheinungen,
die ein Unterschätzen oder Verkennen eines solchen Bedürf-
nisses stets noch im Gefolge hatte.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 17, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0017.html)