Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 18

Politisches Temperament (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 18

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18 SCHIK.

Man erhoffte und erhofft noch von der Volksbildung
eine Temperamentsbelastung. Aber der Unterricht, wie er
heute gepflegt wird, belastet wohl den Kopf, nicht das
Temperament. Es kommt heute nur zu oft vor, dass das
Temperament mit der Schulbildung sich nicht amalgamirt:
Rohheit Gebildeter im gewöhnlichen Leben; bei ihnen liegt
der Temperamentshafen vor der Bildung, in diesen muss man
mit den Beweisen ihres Irrthums einlaufen, da man bei der
Bildung nicht unmittelbar landen kann. Ein Temperament
von falschem Gedankenwege zurückzuholen, ist einzig und
allein wieder einem Temperament möglich; nicht durch
Doctrinen, durch ein Temperament wird es abgelenkt werden
können. Die erfolgreiche Zufuhr von politischen Gedanken
lässt sich nur auf Temperamentscanälen bewerkstelligen.
Solche herzustellen ist daher eine wichtige politische Aufgabe.

Die bisherigen politischen Gedanken haben durch Gene-
rationen die Temperamente entsprechend belastet, jedoch
durch Vererbung die Menschen an die Last gewöhnt und
durch Uebung gestärkt. Nur sociale Gedanken haben heute
die Eignung, die Temperamente auf lange hinaus in ihren
Dienst zu stellen. Aber man zieht noch immer vor, durch
äussern Zwang oder Doctrinen zu ersetzen, was abgelebten
Begriffen an Belastungsgewicht für die aufschnellenden
Temperamente fehlt.

Mit der Befriedigung der Temperamente hat die Politik
neu anzusetzen.

Wien. F. Schik.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 18, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0018.html)