Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 36

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 36

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36 SCHÄFFER.

empfinden sie hellenisch vor der Frauenschöne, aber Tizian wie ein
athenischer Zeitgenosse des Phidias, und Giorgone wie ein Hellenist aus
Alexandria. Der Künstler Tizian berauschte sich am hellen Glanze
des Frauenkörpers, der Mensch in ihm blieb kühl und kalt. Sein
Modell war ihm eben nur Modell, und Giorgone hat es umarmt.

Nach der Venus hat Giorgone kein Bild mehr gemalt, kaum
dreiunddreissig Jahre war er, als sie ihn bestatteten, und man wusste
sehr wohl, was man in dem Todten zu Grabe trug, wie viel Jugend,
wie viel Sonne, und man hat ihn doch schnell vergessen. Den ver-
waisten Herrscherthron der venetianischen Kunst bestieg ein Gewaltiger,
dem es beschieden war, drei Menschenalter zu leben, vor dem sich die
Grossen der Erde bückten und dem der Herrscher zweier Welten den
Pinsel aufhob, da er seiner Hand einmal entglitten und Andere
kamen, viele Andere noch, denen ein langes Leben viele Meisterwerke
gönnte wer wollte da noch des armen, süssen Farbenpoeten
denken, den die Liebe so jung gemordet? Wer erinnert sich der
Knospen, die kalter Reif im Frühling getödtet, wenn die voll erblühten
Rosen des Sommers schimmern und duften? Manche vielleicht,
und die werden verstehen, wie mir’s erging. Ich träumte in Venedigs
Accademia vor Tizian’s Assunta, jenem Bilde reifster Sommerschöne,
vor jener brennenden Farbenorgie, und siehe, das Bild versank, und in
der stillen, weissen Kirche Castelfranco’s stand ich wieder. Durch die
Scheiben sah der Abend und wob um das süsse, sündige Mädchen-
haupt Cecilia’s einen goldenflimmernden Heiligenschein, und dessen
musst’ ich denken, der irdische Frauenschönheit wieder entdeckt hatte
und in seiner Jugend Maienblüthe darob gestorben, und mir war, als
sollt’ ich weinen.

Venedig. Emil Schäffer.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 36, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0036.html)