Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 35
Text
ihres Leibes umstricken liess, bis Rom musste er büssend pilgern, und
nur durch ein Wunder ward ihm Erlösung von solch schwerer Schuld.
Dies Alles muss man erwägen, dies Alles, will man die Grossthat richtig
würdigen, die Giorgione vollbrachte, wenn er die Göttin des sinnlichen
Verlangens gemalt. Das Mittelalter ist zu Ende, der Leib ist aus der
Acht befreit, eine neue Zeit bricht an, das bedeutet uns dies Bild!
Gewiss, schon vor Giorgione hat Botticelli die Venus gemalt,
aber Botticelli zeigt uns antike Gestalten mit christlicher Seele, seine
Venus ist Madonna, die ihre bergende Hülle abgestreift, heilig und
fromm blicken ihre Augen, und die Zaubermacht des Frauenkörpers,
Botticelli hat sie nie empfunden. Streng und keusch floss sein Leben
dahin, Kunst war ihm, dem Anhänger des durch und durch unkünstle-
rischen Savonarola, der Ausdruck des Glaubens, und schliesslich malte
er kein Bild mehr, aus Furcht, er könnte eine Sünde damit begehen.
Und dieser christlichste aller Künstler hätte dem Christenthum einen
Fehdehandschuh hinwerfen wollen? Nimmermehr!
Wie anders lautet das Wenige, das wir vom Leben des Giorgione
wissen. Sein Künstlerthum und seine sonnige Liebenswürdigkeit zogen
eine Menge von Freunden in sein Haus, und mit diesen gestaltete er
sich das Leben zu einem ausgelassenen Feste, spielte die Laute, sang
Lieder und machte bei allen Schönen Venedigs den Galantuomo. Darf
man von dem äusseren Leben eines Künstlers auf das Innere einen
Schluss ziehen, so sind gewiss hier eher die Vorbedingungen erfüllt für
eine hellenische Kunst. Malte dieser Künstler eine Venus, so konnte
sie, oder besser noch, sie musste zur Göttin werden, nicht der körper-
losen christlichen Liebe, sondern der selbstverständlichen, reinen
Sinnlichkeit, der antiken Sinnlichkeit. Und als solche erblicken wir
diesmal Cecilia. In nackter, heiliger Griechenschöne träumt sie auf
ihrem Ruhebett. Schlaf hat die tiefen Augen geschlossen, auf dem
weissen, zarten Flaumenkissen des rechten Armes ruht das göttliche
Haupt: ein Bild süss wollüstigen Müdeseins, nach lechzenden Küssen
und fieberndem Sinnentaumel. Das ist die vierte grosse Etappe
in der Entwicklung der venetianischen Frauenmalerei. Die
Venetianerin, die schlanke Venetianerin des Quattrocento, sie thront als
Madonna, nicht mehr im Himmel und auch nicht auf Erden, sondern
der Künstler hat sein Lieb gemalt um ihrer eigenen Frauenschönheit
willen und ihr den Namen einer Heidengöttin gegeben. Die Venus
Giorgiones ist das erste in der Reihe jener zahllosen Einzelbilder der
Venetianerin, die uns das Cinquecento bescheert. Aber kein zweites
Bild ist mit solch trunkenen Sinnen, mit solch bebender Leidenschaft
mehr gemalt worden; lohflackernde Gluth hat dem Künstler die Hand
geführt, da er diesen herrlichen Frauenkörper gemalt. Wie oft mag er
die Palette weggeschleudert und selige Küsse auf sein nacktes, zuckendes
Lieb gepresst haben. Man fühlt, dass der weiche Athem dieser Frau
den Maler zittern gemacht, und das ist es, was zwischen der Frauen-
auffassung Giorgione’s und der Tizian’s eine steile Scheidewand erbaut.
Ein Aesthetiker würde sagen, Tizian’s Auffassung ist »gesünder«. Beide
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 35, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0035.html)