Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 34

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 34

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34 SCHÄFFER.

nichts von der keuschen, körperlosen Frau, die das Quattrocento ge-
malt; das ist ein Weib mit erwachten Sinnen, und jede Fiber, jede
Ader an diesem weichen, hell schimmernden Frauenleibe, Alles bis auf
die Finger, die nervös sich leise biegen, Alles ist Sehnen nach Liebe,
Umarmungen und brennenden Küssen.

Von diesem Werke ist nur ein Schritt zur Venus in Dresden.
Dies Bild bedeutet Giorgione’s Umwerthung aller Werthe. Seinen
Antichrist heisse ich sie; denn die Darstellung der nackten heidni-
schen Liebesgöttin, was bedeutet sie Anderes als eine Abkehr vom
körperleugnenden Christenthum, was Anderes, wenn nicht eine Ueber-
windung des Kreuzes?! Blicken wir zurück auf den Riesenweg, den
die Kunst gegangen, seit in Delphis Heiligthum die duftenden Feuer
verglommen und der letzte Wagen über’s weisse Blachfeld von Olympia
gesaust. Das Christenthum war zur Herrschaft gekommen, und wie jede
Geistesströmung, wie alle Kunst doch nur Reaction gegen eine vorher-
gangene ist, dies Gesetz, das man im Kleinsten, in den Richtungen von
heute auf morgen ebenso gut beobachten kann wie im Grössten, dies
Gesetz bewährt auch hier seine Geltung. Griechenthum hiess, mit beiden
Füssen fest auf der wohlgerundeten Erde stehen, ein Jasagen war es,
ein heiliges, jauchzendes Jasagen zum irdischen Dasein, dass man des
Lebens Werth erfand, ein Jasagen war es zu aller Körperschönheit,
ein jubelnd Jasagen zu allen Trieben und Leidenschaften, in denen man
Stimulantia des Lebens erkannte. Hier musste das Christenthum Reaction
werden; das Leben ward zum trüben, nebelumschleierten Jammerthal,
und die Sonne, die dann und wann die graue Oede durchflimmerte,
hiess die Hoffnung auf ein Dasein nach dem Tode; Achilles mag lieber
ein Bettler auf Erden als ein König im Hades sein. So fassten die
Alten das Leben diesseits und jenseits auf. Der menschliche Körper,
dessen Schönheit das nimmerrastende Studium antiker Kunst gebildet,
das Christenthum hat ihn geleugnet. Er war ihm das Gefäss von
Schmutz und Schlamm, und insbesondere däuchte ihm der Frauenkörper
eine Verlockung des bösen Feindes. Den schönen Körper hat das
Christenthum von je mit seinem tödtlichsten Hasse verfolgt, und es ist
kein Zufall, dass man ihn gerade zu jener Zeit wieder ehren lernte,
ihn um seiner selbst willen dargestellt hat, da ein Pietro Bembo sein
Brevier nicht las, um sich nicht sein Latein zu verderben, und Veronica
Franco, die Hetäre, einem Cardinal ihre Gedichte widmen durfte. Die
sinnlichen Triebe, die Leidenschaften des Körpers, der Geschlechts-
rausch, der erhabenste, der heiligste Rausch, der Anfang aller Dinge,
der Anfang und das Ende aller Kunst, die Zeugung, das gewaltigste
aller Mysterien, ein Gegenstand der Anbetung bei den Hellenen ,
das Christenthum, dem nach der Schöpfungslegende das Weib die
Ursache aller Schuld dünkte, es hat sie schmutzig und gemein ge-
heissen, in den Koth gezerrt und die lichteste, natürlichste und reinste
aller Begierden, rundweg hat es sie geleugnet! Die Göttin der ver-
langenden Sinne, Astarte, Aphrodite, Venus, sie ward zur Hexe, zur
schönen Teufelinne, und Ritter Tannhäuser, der sich vom süssen Zauber

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 34, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0034.html)