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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 37

Text

KRITIK.

Burgtheater. Seit einem hal-
ben Jahrhundert ringt das Hebbel-
sche Trauerspiel »Judith« ver-
geblich nach dauerndem Bühnen-
leben. Meisterhaft dramatisch greifen
die Nebenfiguren ein, voll Leben
sind die Volks- und Kriegerscenen,
aber gänzlich abhängig von der
Darstellung bleiben die beiden füh-
renden Gestalten. Mit überreich-
lichem geistigen Gepäck versehen,
das schon auf ebenem dramatischen
Wege schwer fortzubewegen wäre,
haben ihre Interpreten den steilsten
Weg zum Sinn einer Dichtung zu
überwinden. Dem Fräulein Adele
Sandrock wird es zu verdanken
sein, wenn sich das Stück von nun
an einen festen Platz im Reper-
toire erobern wird. Sie ist im
Verständniss des Werkes weit vor-
gedrungen und hat die Details, von
welchen jedes einzelne ein eigenes
Problemleben führt, mit kräftigem
Geiste streng der Gesammtidee
untergeordnet. Sie liess sich keinen
Moment vom Hauptweg abziehen;
wie die Heldin die That, hatte
sie als Darstellerin zugleich das
Ziel der Gesammtdichtung vor
Augen. Sie war die Frau, die sich
selbst zum Räthsel geworden, weil
Alles, was sie umgibt, sich —
scheinbar ohne Grund — scheu
vor ihr zurückzieht, in deren Hand-
lungen Niemand einzugreifen wagt,
die das Bewusstsein ihres eigenen

Lebens verliert und, ohne Einzel-
interesse, in das Allgemeine taucht.
Entweibt am Körper, den ihr Gatte
nicht zu berühren wagte, entweibt
am Geiste, der den Frauengeschmack
am Alltäglichen verliert. Unbewusst
wird sie von einer unbekannten
Macht zu einer That für die All-
gemeinheit erzogen. Holofernes ist
der philosophische Geist, der ohne
Rücksicht auf die Individuen durch
die Welten wandelt. Er soll ver-
nichtet werden. Alle Männer sind
von ihm angekränkelt und daher
zur That ungeeignet. Das Weib,
als reines Naturwesen, wird gegen
ihn aufgeboten. Wie Fräulein Sand-
rock-Judith für die allgemeine That
immer kräftiger, als Einzelgeschöpf
immer schwächer wird und in
dieser scheinbaren Erschöpfung im
dritten Act auf dem Boden kauert,
— übermenschliche Kraft und unter-
menschliche Schwäche hat man
kaum jemals so gepaart gesehen.
Wie soll aus dieser Zweigestalt
eine einheitliche That hervorgehen
können? Wir sehen, wie sie, einer
visionären Eingebung folgend, die
menschliche Judith erbarmungslos
von sich schleudert, wie Kraft
ohne weiblichen Einschlag vor uns
ersteht. Wir sehen förmlich, wie
sie, weder Weib noch Mann, nur
als menschlicher Gattungsbegriff
überhaupt, die weibliche Maske
vornimmt, um damit vor Holo-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 37, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0037.html)