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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 38

Text

38 KRITIK.

fernes zu erscheinen. Die Theilung
der menschlichen Geschöpfe soll
aufhören. Eine neue Species von
Lebewesen soll auf dem Plan er-
scheinen. In sich hat Judith das
Weibliche ausgetilgt, jetzt soll in
Holofernes das männliche Princip
verlöscht werden. Aber sie trifft
in Holofernes nicht, wie sie ver-
muthet, die Ausartung des Männ-
lichen, sondern gerade das an,
wozu sie sich mit unsäglichen
Mühen selbst hinaufgeschleppt, das
Allgemeine. Das Allgemeine steht
dem Allgemeinen gegenüber. Sie
als das künstlich Allgemeine kann
dem ursprünglichen des Holofernes
nicht Stand halten. Den schaurigen
Klang, wie seine echte mit ihrer
künstlichen Allgewalt zusammen-
prallt, gibt Fräulein Sandrock in
der Betonung des Wortes »Unge-
heuer!« wieder: ein gellender Schrei
Judith’s, der wie aus Jahrtausenden
herüber- und in alle Zukunft hinein-
klingt. Ein ewiger Laut der
Menschheit entringt sich ihrer Brust.
Judith’s Sinn hat sich mit dem des
Holofernes unlösbar vermischt. Sie
tödtet ihn, aber er lebt in ihr
fort: die Menschheit bleibt mit der
Brutalität der Natur geschwängert.
— Dass Herrn Mitterwurzer der
Holofernes nicht gelingen konnte,
war vorauszusehen. Er bleibt ein
vorzüglicher Schauspieler, so lange
Vergangenheits- und Gegenwarts-
menschen in Frage kommen. Er
versagt, wo Ewiges und Zukünftiges
in das Individuum hineinblitzt. Er
ist kein Holofernes, ebenso wie er
kein Almers in »Klein-Eyolf« war,
wie er nie ein Rosmer oder
Vockerath sein wird. Ausgezeich-
neten Styl hielt Herr Lewinsky
als Daniel.

F. Schik.

Raimund-Theater. »Die
Höllenbrücke
«, Schwank in drei
Acten von Wolff und Jaffé.

Diese harmlose Satire soll nicht
mit gar zu strengem Mass ge-
messen werden. Sie hat allein nicht
Schuld an ihrer zahmen Unbe-
trächtlichkeit. Sie schliesst sich
eng an eine Tradition, sie lehnt
sich an bewährte Muster. Ein ganzes,
oft gesehenes Genre trifft der
Vorwurf, den ich dem Stücke
machen möchte, das Genre jener
Possen nämlich, die nur die Thor-
heiten, die Niemand thut, die
Keinem etwas thun und deren
Zeigen so die Masse nicht ver-
letzt, aus Gründen des Erfolgs
zur Scheibe ihres Witzes nehmen.
Etwas Kleinliches, Unedles wird
dadurch in die Satire getragen,
das ihre stolze Würde zerstört.
Ein Zug ins Grosse muss ihr eigen
sein, die wirklichen, die drohenden
Schwächen der Zeit muss sie ent-
hüllen, dann erst erfüllt sie sieg-
reich ihre Sendung. Man denke an
die Wucht des Aristophanes, an
die lachende Gewaltthätigkeit des
Nicolaus Gogol. Die gutmüthige
Verhöhnung argloser Alpenfexerei
(wie sie Jaffé und Wolff in diesem
Stück versuchen) hat mit würdiger
Kunst gewiss nichts zu thun. Satire,
will sie dieses Namens werth sein,
muss nebst blutiger Schärfe vor
Allem Weite besitzen.

R. St.

Theater an der Wien.
»Der Schmetterling«, Operette
von B. Buchbinder und A. M. Will-
ner. Musik von C. Weinberger.

Nach Entlassung des Herrn
Girardi, gemischtem Repertoire und
einer misslungenen Abschweifung
zur sogenannten ungarischen Oper

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 38, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0038.html)