Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 28

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 28

Text

DAS WEIB IN GIORGIONE’S MALEREI.

Motto: »Was ich den Alten verdanke.«

Friedrich Nietzsche .

Abenddämmern, graues Abenddämmern keuchender Nebel
kriecht über die Lagunen und hüllt in einen schmutziggrauen Mantel
den Mann, der nicht allzu fern den Fluthen mit unendlich trauriger
Milde vom Kreuze herniederschaut Die Wogen kreischen, hie und
da schrillt über den weissen Schaum ein Mövenlachen, unheimlich und
gell und dann ist’s wieder still Vor dem Kreuze steht ein Jüng-
ling; Sonne, lichte Jugendsonne leuchtet von seiner Stirn, aber in den
Augen brütet Nacht; in jener wildzerrissenen, gemarterten Schönheit
funkeln sie, wie gestürzte Engel blicken, wie der Mächtigste der
Mächtigen, Satan der Feuerthronende Und starr und sinnend schaut
der Jüngling lange, lange herauf, zu dem Kreuz und zu dem traurig-
gütigen Mann, und plötzlich stösst er ein Lachen aus, feindlich-höhnisch,
mit mächtiger Riesenfaust reisst und rüttelt und zerrt er an dem
Stamm Die Erde wankt weicht das Kreuz schwankt, da
packt er’s, hebt’s hoch empor und schleudert’s ins Meer, tief, tief ins
heulende Meer Hochauf spritzen die Wogen, schriller schreien die
Möven, und dann ist’s wieder still, keuchender Nebel kriecht über die
Lagunen Abenddämmern, graues Abenddämmern Zu Hause kniet
der Jüngling nieder vor einem Bilde, das er gemalt, und betet: »Er-
habene Göttin, die du machtvoll herrschend über Paphos gebietest
und Amathus, das rosenumschimmerte; Aphrodite, die du in sonnen-
flimmernder Maienschöne den blauen Wogen des Hellenenmeeres ent-
stiegen, Kypris, goldenthronende, zu dir bete ich. Deine lichten Marmor-
tempel mit ihren epheuumkränzten Säulen, zerstört hat sie der Pöbel.
Dein frohes Götterbild, sie haben’s zertrümmert und Kalk daraus ge-
brannt für den Bau von Kirchen, und dich, o Königin der Welt,
schwarze Priester haben dich beschworen, gebannt und verflucht
Aber ich, der Künstler, bete scheu und ehrfürchtig zu deiner gnaden-
spendenden Majestät, zu dir, Weib gewordener Geist des Hellenen-
thums, zu dir, heiliger, trunkener Rausch der Sinne; denn dir, nur
dir allein dank ich’s, dass ich des Weltalls Sprache verstehe, dass
Blumen und Wiesen und Bäume in zartem Flüstern das Geheimniss
ihrer Seele mir entschleiern, dir nur dank ich’s, darf ich die holden
Stimmen deuten, die aus fluthender Tiefe zu mir herauf singen
Rausch der Sinne, dir danke ich die Thräne, die ich weinen muss,
wenn ich der Schönheit ins Auge schaue, wenn ich demüthig schaudernd

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 28, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0028.html)