Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 29

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 29

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DAS WEIB IN GIORGIONE’S MALEREI. 29.

aller Gewalten mächtigste empfinde, die nackte, männermordende Schöne
des blonden, blüthenzarten Frauenleibes! Dir dank ich’s, empfinde ich
seine Musik, die strengen, keuschen Melodien seiner Linien und die
schwülen Sommernachtsaccorde seiner Farben.«

Und siehe, da der Jüngling also gebetet auf seinen Knien, da
schimmerte es wie Sonnenlächeln um die göttlichen Züge, ein tief-
strahlendes Leuchten brach aus den weiten Augen Leben gewann
das todte Bild die hellen Glieder regten sich in frühlinghafter
Majestät stand Kypris, die Heilige, vor dem Jüngling, und hinter den
Beiden versank die Welt in purpurrauschender Rosenfluth Ein
rasend tolles, wahnwitziges Küssen begann, in bacchantisch jauchzender
Seligkeit hakten sich die Zähne ins bebende Fleisch, bis das rothe
Blut über die weisse Pracht der Körper rieselt immer bleicher wird
der Jüngling, immer bleicher und da der Morgen ins Gemach blickte,
lag vor dem Bilde Aphroditens ein Todter.

Und die Menschen kamen zu dem Todten, die Kleinen, die
Nüchterlinge, deren Seele in schwarzen Nächten fiebernden Sehnens
nimmer nach der Schönheit gebetet, sie kamen, sahen den Jüngling und
schrieben kalt und trocken in ihre Bücher:

Giorgio Barbarelli, genannt Giorgione, geboren zu Castelfranco
im Jahre 1477, begab sich zuerst in die Schule des Giovanni Bellini,
machte sich aber bald von der Art seines Lehrers los, betonte als
Erster das landschaftliche und coloristische Moment in seinen Gemälden,
nahm der Malerei den kirchlichen Charakter und gab ihr in seinen
sogenannten Novellenbildern einen erzählenden, genreartig-profanen.
Wenn wir auch den Inhalt seiner Werke nicht immer verstehen, so
wirkt doch der Stimmungsgehalt mächtig auf uns ein. Leider starb
er in Folge seines ausschweifenden Lebens schon im Jahre 1511 zu
Venedig

Auf der Rückseite des einzigen bezeichneten Gemäldes, das wir
Giorgione’s Hand verdanken, auf dem Madonnenbilde in der Kirche
zu Castelfranco steht geschrieben:*)

Liebchen! Cecilia!
Zögerst du? Komm doch!
Sieh’, es erharrt dich
Sehnend dein Giorgio.

Das erinnert an die προσχλαυσύθυρα der Alten, und jene wenigen
Worte sind, was die Stimmung angeht, gar merkwürdig verwandt mit


*) Cara Cecilia,
Vieni, t’affretta,
Il tuo t’aspetta
Giorgio.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 29, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0029.html)