Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 30

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 30

Text

30 SCHÄFFER.

dem hellenisch gefühltesten lateinischen Gedicht, mit der Ode des
griechischen Römers, die beginnt: Donec gratus eram tibi

Cecilia ist Giorgione’s Geliebte gewesen, das Modell der Madonna.
Jene Cecilia, die er sein Alles genannt, und die ihn elend betrogen,
eine jener Frauen, die Satan sendet, um Künstlerseelen zu morden,
denn einem Volto di vergine gesellte sich die anima di fango. Einst,
da ihm sein Lieb vielleicht zu lange zögerte, mag er jene sehnsüchtigen
Verse auf das Bild geschrieben haben; aber wenn ein Künstler nicht
entbehren konnte, was man nicht darf vor keuschen Ohren nennen und
was sich nicht recht mit jenem lauteren Idealbild vertragen will, das
strebende Knaben und sittige Mägdlein im reinen Herzen sich vom
Künstler bilden sollen, da findet der todte Künstler immer einen
Director, Oberlehrer oder so was Aehnliches, der ihm die beschmutzte
sittliche Ehre wieder rein waschen will. So hat man die prachtvoll
sinnliche und darum gewiss echt künstlerische Leidenschaft des jungen
Goethe für die Pfarrerstochter aus Sesenheim mit Rücksicht auf den
Unterricht in der Literaturgeschichte zu einem süsslich faden Schäfer-
spiel herabgewürdigt; den allzu weltlich gesinnten Fra Filippo Lippi
hat man zu einem Heiligen heraufläutern wollen, und auch Giorgione
ist in einem Pfarrer aus Castelfranco ein Ritter erstanden, der mit
Harnisch und Panzer angethan für den Künstler zu Felde zog: jene
Verse wurden von frevler Hand nach Giorgione’s Tod auf das Bild
geschrieben, so behauptet des Malers geistlicher Champion und vergisst
nur die Kleinigkeit, dass es sehr gleichgiltig ist, ob Giorgione diese
Zeilen mit eigener Hand geschrieben oder nicht; denn bei solchen
Dingen kommt es nie so sehr darauf an, ob sie wahr sind, sich wirklich
ganz genau so zugetragen haben, wie es überliefert ist, sondern viel
wichtiger scheint mir die Frage, ob sie mit der Kunstweise und dem
Leben eines Künstlers in Einklang zu bringen sind. Solche Verse und
Künstleranekdoten, ich glaube, wir können sie ganz gut als den Extract
einer Persönlichkeit auffassen, den man sich aus ihren Werken und
ihrem Leben herauscondensirt hat, und zuweilen treffen sie das innerste
Wesen einer Kunst besser als eine ästhetische Abhandlung.

Giorgione hat diese Reime nicht verfasst gut, aber warum
hat der spätere Schreiber sie dann nicht auf ein Bild Bellini’s gedichtet,
warum auf keine andere Madonna des Quattrocento? Warum lesen wir
auf der Rückseite anderer Gemälde nur Inschriften wie Amore incensus
crucis, und warum hat nun der unbekannte Dichter jene weltlichen
Zeilen gerade auf jenes Bild geschrieben? Hat also Giorgione die vier
Zeilen selbst gedichtet, so bedürfen sie keiner Erklärung, und hat sie
ein Anderer verfasst, so kann er sie nur auf das Bild geschrieben
haben, von der Ueberzeugung durchdrungen, dass der Geist, den dies
Gemälde athmet, mit den Versen nicht im Widerspruch steht. Ist dem
in der That so? Wiegt die weiche, goldene Schönheit des Bildes die
Seele in lichte Träume, steht man unter dem ersten zwingenden Ein-
druck, so ist man überhaupt unfähig, seine Empfindung zu untersuchen
und zu analysiren, und jene Beneidenswerthen, die vor einem Kunst-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 30, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0030.html)