Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 31

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 31

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DAS WEIB IN GIORGIONE’S MALEREI. 31

werk sofort mit einem Urtheil und einer Kritik bei der Hand sind,
deren Verstand nicht für Augenblicke wenigstens unter der streichelnden
Hand der Schönheit in wonnigen Schlummer sinkt, Künstler sind sie
nicht. Je grösser die Kunst, desto weniger kann man sich Rechen-
schaft über sie geben, und es dauert lange, sehr lange, bis wir es
vermögen, nüchtern und kalt über die Madonna von Castelfranco zu
urtheilen. Und dann finden wir: der Schreiber jener vier Zeilen hat
ein feines Kunstgefühl besessen, jene frohen, küsseschmachtenden Reime
passen zu diesem Bilde, eine neue Kunst schlägt ihr lichtes Glanzauge
auf. Eines jener köstlich verführerischen Uebergangswerke ist dies Bild
und, wenn man es sagen dürfte, Abend- und Morgenröthe zugleich.
Die übersinnlich transcendentalen Feierklänge jenes grossen Chorals,
den wir Quattrocento heissen, in diesem Bilde verbeben sie gleich
schmerzlich-bleichen Harfenaccorden, und leise leise mit demselben
Klange hebt die neue Kunst an, die bald ein lebenstrunkener, von
Tropengluth durchwogter Hymnus auf Erdenschönheit und Sinnenfreude
werden sollte. In der Mitte des Bildes thront Madonna, hält den
Jesusknaben im Arm, und still und feierlich stehen die Heiligen Liberalis
und Franciscus zu Seiten des Thrones. Das ist eine santa conversazione
im Style Bellini’s, und auch das erhabene Schweigen der Leidenschaft,
jene mystische Sehnsucht, jene weisse Lilienstimmung, die aus dem
Bilde duftet, sie gehören dem Quattrocento.

Und das Cinquecento? So bedeutet dies Bild zuerst die Geburt
der modernen Landschaft. Für Bellini noch war bis zu Giorgione’s Auf-
treten die Landschaft nur ein Hintergrund für den Vorgang des Bildes.
Man kann beide leicht von einander lösen, bei Giorgione ist das anders.
Personen und Landschaft sind aus derselben Stimmung herausgeboren,
durch ein geheimes Gesetz unlösbar aneinander gekettet, zu einer
wundervollen, vorher nie gekannten Einheit mit einander verschmolzen.
Wie bei Tizian und Böcklin ist es, und wie diese hat er auch niemals
ein Stück Landschaft einfach abgemalt, hat auch niemals nach der
classicistischen Methode die Natur als schönstylisirte Coulisse behandelt,
sondern das Grosse, das Wesentliche, die ewigen Züge einer Gegend,
die hat er herausgefühlt und festgehalten, befreit von allem Zufälligen
und menschlich Kleinlichen. Handlung, Landschaft und Staffage, sie
mussten ihm zu einem Stimmungsaccord zusammenklingen. So schimmert
auf dem Bilde zu Castelfranco in blauer Ferne ein lichter Griechen-
tempel; das hat in Venedig kein Quattrocentist gewagt: — ein heidnisches
Gotteshaus auf einem Madonnenbilde! Dem venetianischen Künstler des
Quattrocento war die Kunst sinnlicher Ausdruck einer übersinnlichen
Idee, und mit der Idee Christenthum ist die Idee Griechenthum für
ewig unvereinbar. Darum hätte er den Tempel nicht malen dürfen.
Einzelne antike Zierglieder, die an und für sich noch keine Idee aus-
sprechen, waren dem Quattrocento allerdings nicht fremd, und selbst
antike Gebäude wurden gemalt, wenn die Handlung, der sie als Hinter-
grund dienten, im Alterthum sich zugetragen, aber einen Heidentempel
auf einem Madonnenbilde hat Venedig vorher nie geschaut. Giorgione,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 31, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0031.html)