Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 32

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 32

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32 SCHÄFFER.

dessen Kunst in den Sinnen wurzelte, hielt sich an die Form des
Tempels, die klare Harmonie seiner Linien, an jene grandiose Ruhe,
in der alle Leidenschaft besiegt erscheint. Darum passte ihm die stille
Feierlichkeit der Formen zu dem erhabenen Frieden des Madonnen-
bildes. Die Idee eines Tempels kümmerte ihn nicht mehr, er fühlte
nicht als Christ, sondern als Künstler. Auf dem Bilde der Galleria
Giovanelli wieder, wo alles Fieber und Leidenschaft athmet, grelle
Blitze aus wolkiger Nacht brennen, hier hätte der ruhige Griechen-
tempel sich nicht gut ausgenommen. Hier musste Kämpfendes, Zer-
rissenes, Bewegtes seinen Platz finden. Hier ragen steile Thürme mit
dräuenden Zinnen, Häuser mit hohen Kaminen, weissen Schaum schlägt
das Wasser, aus tiefrissigen Felsen wachsen Bäume, deren Häupter der
Sturm aneinanderpeischt, und die Antike ist nicht durch eines Tempels
erhabenen Frieden vertreten, sondern zwei abgebrochene Säulenstümpfe
ruhen auf verwittertem Gestein. Giorgione betrachtete die Natur nicht
mehr als blosse Staffagen, sondern liebte sie um ihrer selbst willen mit
heisser Inbrunst, studirte mit nimmer rastendem Eifer ihre Formen
und Linien, lauschte dem wechselndem Spiele ihrer Farben, und so
musste er denn nothwendig zu einem lyrischen, echt modernen
Naturempfinden geleitet werden, woraus sich dann seine Licht- und
Luftmalerei und die stärkere Betonung der Wahrheit in der Farbe
von selbst ergab. Und dies moderne Empfinden, die Liebe zu den Dingen
an sich, zu ihren Linien und Farben, die überträgt Giorgione folge-
richtig auch auf seine Darstellung des Weibes. Die Madonna von
Castelfranco zeigt den Frauentypus des Bellini, d. h. den venetianischen.
Das ovale, süsse Antlitz mit den leicht gekräuselten, zarten Purpur-
lippen, die schmale, gerade Nase und jene tiefe, flaumige Furche, die
sich von der Nase zum Mund gräbt, die melancholischen, runden
Augensterne, die so seltsam aus der Mandelform des Auges heraus-
schimmern, die hohe, blanke Stirn, geküsst vom schweren, kastanien-
braunen Haar, das Alles sehen wir auf den Gemälden Bellini’s auch,
und doch, welch Unterschied zwischen der Madonna Bellini’s und
der Giorgione’s! Bellini, seine Schüler und auch Carpaccio, sie wollten
die Lehre des Christenthums sinnlich wiedergeben durch Farben und
Linien. Bellini’s Madonnen, die so schmerzvoll resignirt in Traumesferne
ein künftig Weh erschauen, sie lehren, dass wir uns demüthig dem
höchsten Willen beugen sollen, und Carpaccio’s Madonnen mit dem
fragenden Vorwurf im Blicke, der so seltsam nach innen gewandt ist,
sie mahnen zur Einkehr in uns selbst, als Mensch gewordene Gebote
der Milde empfinden wir sie. Zwischen Giorgione’s Madonna und dem
Christenthum eine Beziehung herauszufinden, die nicht gequält wirkte,
das dürfte schwerer sein. Die Primitiven haben die unindivi-
duelle Schönheit auf den goldenen Himmelsthron gehoben,
Bellini setzte die Venetianerin des Quattrocento darauf und
wandelte sie zur Weltenkönigin
, und Giorgione stellte den
Thron mit der Venetianerin auf die Erde
. Das ist der dritte
grosse Schritt in der Entwicklung der venetianischen
Frauen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 32, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0032.html)