Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 33

Das Weib in Giorgione’s Malerei (Schäffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 33

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DAS WEIB IN GIORGIONE’S MALEREI. 33

malerei. Was die Augen dieser Madonna künden, ist nicht mehr das
tiefe, übersinnliche Weh Bellini’s und Carpaccio’s, sondern irdische
Schwermuth, und zwar die zarteste und innigste, die vielleicht je gemalt
worden. Nicht den christlichen Himmel empfinden wir vor diesem
Bilde, meilenfern liegt uns der Gedanke an Maria, aber mit bebender
Andacht fühlen wir, und nur einzig und allein von allen Bildwerken der
venetianischen Schule vor diesem, was der Grösste der Grossen das
»Ewig-Weibliche« genannt. Nicht das Christenthum spricht zu uns,
nicht Madonna, sondern das Weib, bei wundervollster individueller Gestal-
tung zur erhabensten Höhe des Typischen gehoben. Iphigenie sagt kein
Wort, das nicht diese Madonna auch sprechen dürfte, und selbst Elektra
oder Cordelia können wir zu diesem Antlitz träumen, und keine ihrer
Handlungen würde ihm widerstreiten, weil eben Giorgione in dieser
Frauengestalt keine Madonna mehr geschaffen hat wie die früheren,
sondern das Weib als solches. Den späteren Venetianern ist es nicht
wieder geglückt. Höchste Geistigkeit mit sinnlichster Schönheit zu ver-
binden, das war nur Giorgione vergönnt und selbst ihm nur in diesem
Bilde. Das Zarte, Knospenhafte in der Bildung des Körpers gehört
noch dem Quattrocento, aber die Art, in welcher jene Madonna gemalt
ist, die weist in’s Cinquecento. Jener goldene Glanz der Wangen, das
Grübchen im Kinn, der freie, weite Hals und nicht zuletzt die Busen-
form, die sich klar und deutlich unter dem rothen Kleide zeichnet,
all diese Nuancen sind gemalt aus einem Geist heraus, der nicht mehr
der Bellini’s ist, aus heiss verlangender Liebe, nicht zum Christenthum,
nicht zur Madonna, sondern zu Cecilia, die kommen soll und sich
beeilen, weil ihr Giorgio sehnsüchtig sie erharrt

Steht Giorgione in diesem Bilde wenigstens durch die Wahl des
Stoffes noch auf dem Boden des Christenthums, so verlässt er diesen
vollständig in den anderen Bildwerken, die für uns in Betracht kommen.
Da ist zunächst das Gemälde im Pal. Giovanelli zu Venedig.*) Hier
beengten ihn nicht mehr die religiösen Schranken; von keinem Wunsche
eines Bestellers abhängig, konnte er sich bringen, sein stürmisch
loderndes Künstlernaturell, hier durfte es sich vollständig ausleben.
Die Landschaft zeugt von seinem Hang für alles Wilde, Grausende und
Tosende, für Alles, was Kraft, überschäumende, elementare Kraft ver-
kündet, und in der nackten, jungen Frau, die mit einem Kinde an der
Brust im Vordergrunde hockt, hier kommt jener Giorgione zur Geltung,
»che si dilettava continuamente de le cose d’amore«. Wieder schauen
wir Cecilia, aber welche Wandlung ist vorgegangen! Zigeunerhaft flattern
sturmzerwehte Haare um volle Wangen, keine milde Schwermuth
trauert im Auge, da ist kein Zug von der Madonna aus Castelfranco


*) Auf die verschiedenen Deutungen des Bildes an dieser Stelle einzugehen,
halte ich für überflüssig.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 33, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0033.html)