Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 77
Text
Nagel, dem räthselhaften Fremden in den »Mysterien«. Und wie
es in diesem leider viel zu wenig gewürdigten Roman Capitel
gibt, die man, ohne den Gang der äusseren Handlung zu
hemmen, ganz gut dem Buche entnehmen und als Studien
über Tolstoi oder den Begriff des Genies veröffentlichen
könnte, so finden sich auch in Peter Altenberg’s Buche
einzelne Skizzen, die weder eine äussere noch eine innere
Handlung berichten, aber doch als Commentar für das Ver-
ständniss der anderen nothwendig sind; denn sie bieten in
meisterhaft gedrängter Form den Extract seiner Welt- und
Kunstanschauung.
Was seine Kunstanschauung angeht, so weist sie manchen
Berührungspunkt mit der Friedrich Nietzsche’s auf. Wenn
dieser verkündet: »Damit es Kunst gibt, damit es irgend ein
ästhetisches Thun und Schauen gibt, dazu ist eine physio-
logische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch«;
und Altenberg sagt: »Alles tief vom Innersten heraus
Lebendige hat seine Räusche, seine Exaltationen, seine Ex-
centricitäten, seine Kindlichkeiten,« so fühlen Beide als grosse
Künstler und damit auch — als Griechen. Doch bald
scheiden sich ihre Wege. Mit schmerzlich-schrillem Hohn-
gelächter wendet sich Zarathustra - Nietzsche vom Kreuze
ab, an dessen Stamm Peter Altenberg niedersinkt; denn
er betet in Christus den idealen Menschen an, und seine
Liebe zu dem Gekreuzigten ist ihm die »Liebe zu uns selbst,
zu unserem wahren, reinen, leidenschafterlösten Wesen«.
Mit derselben Gluth aber bewundert er auch das Griechen-
thum, die Materie, überwunden durch Schönheit! In Be-
wegung geträumt, in Grazie verzaubert! Und so darf man
sein Sehnen vielleicht in den scheinbar paradoxen Begriff
christliche Antike fassen: Christus mit dem Sonnenblick
des fernhintreffenden Apoll und Madonna, lächelnd wie
Anadyomene, gebieten einer Welt der Liebe, die doch in all
ihren Poren durchtränkt ist von leuchtendster, blühendster
Sommerschönheit.
Breslau. Emil Schäffer.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 77, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0077.html)