Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 81
Text
Wiener Rundschau.
15. DECEMBER, 1896.
KIND GOTTES.
Skizze von Maria Janitschek (Berlin).
Es war im Lüneburger Haideland.
Weit wölbte sich der Himmel über dem braunrothen
Boden wie eine ungeheuere, schützend ausgebreitete Hand.
Dunkelgrüne Eschengruppen, die hie und da die einförmige
Fläche unterbrachen, verbargen in ihren Schatten kleine,
wunderliche, strohgedeckte Häuser. Vor diesen Gelassen,
die man kaum Nachbarhäuser nennen konnte, weil sie so
weit von einander entfernt lagen, sass die Einsamkeit und
spielte auf unsichtbarer Laute ihr grosses geheimnissvolles
Lied. Die rüstigen Arbeiter in der Mitte des Lebens, die
zusehen mussten, Kisten und Truhen zu füllen, und gruben
und harkten und schnitten, hatten nicht Musse, darauf zu
lauschen. Aber die Greise und Kinder, die unthätig vor den
Hütten sassen, die vernahmen es und bogen die Köpfe vor
wie Horchende und verloren ihre Seelen in der Unermess-
lichkeit dieses Himmels.
Eine dieser weltfernen Niederlassungen beherbergte
nebst einer bejahrten Familie, deren Kinder schon längst
ausgeflogen waren, eine Frau und einen Knaben. Er war
nicht ihr eigener; sie hatte ihn angenommen, damit sie einen
Sohn und er eine Mutter habe. Später merkte sie, dass sie
ihn doch nicht so lieb haben konnte, wie sie es gewünscht
hätte.
Um sich aber immer zu erinnern, dass er, der Vater-
und Mutterlose, besonderer Güte und Sorgfalt verdiene, rief
sie ihn statt nach seinem Namen: Kind Gottes.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 81, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0081.html)