Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 82
Text
In seinem dritten Jahre erkrankte der Junge. Er verlor
sein pralles Kindergesicht und erhielt sonderbare alte Züge.
Auch sein körperliches Gewicht nahm ab. Ein Doctor, den
die Frau einmal von weit her holte, meinte, indem er den
Knaben betrachtete, er hätte wohl die »Auszehrung«. So
glänzende, kluge Augen mit allerlei Geheimnissvollem darin
bekämen die Kinder, die an der Auszehrung stürben. Und
sie solle ihn nur ruhig liegen lassen und hübsch warm
halten, weiter gäbe es da nichts zu thun.
Sie liess ihn ruhig, ganz ruhig in der kleinen Kammer
liegen, stellte ihm ein Schüsselchen Milch ans Bett und ging
ihrer Arbeit nach.
Er weinte nicht, wurde nicht ungeduldig. Er sah mit
seinen grossen, glänzenden Augen immer aufs Fenster.
Eigentlich sah er da nicht viel, denn die dichtbelaubten
Bäume liessen nicht das kleinste Stück Himmel sichtbar
werden. Manchmal kam eine Biene oder ein Schmetterling
hereingeflogen, oder ein Vogel sang in leisen Flüstertönen
draussen im heimlichen Laubgezweig von etwas Wunder-
süssem, das in der Welt war Dann lächelte der Junge.
Er wurde alle Tage wissender und klüger und bekam hell-
sehende Augen. Und sein kleines Herz begann mit jeder
Stunde schneller und schneller zu klopfen.
Eines Tages stand die Frau lange vor seinem Bette
und sah ihn an. Er wollte ihr gar nicht mehr gefallen. Aus
seinen strahlenden Augen schienen Engel zu lachen, und im
Zimmer rauschte es wie nahende Gewande. Aber sie konnte
nicht bei dem kleinen Kranken bleiben. Es war Spätherbst,
und die letzten Kartoffeln mussten ausgenommen werden.
Sie deckte das Kind gut zu, dass kein Luftzug und kein
Lichtstrahl sein kleines, heisses Gesicht berühren konnte,
dann entfernte sie sich seufzend.
Draussen traf sie den alten Schäfer.
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Wenn Ihr ’mal vorbeikommt, seht doch nach dem
Jungen. Ich bliebe gern bei ihm, aber ich kann nicht, ich
muss aufs Feld.«
Der Alte versprach es. Dann und wann, wenn seine
Schafe in der Nähe grasten, öffnete er die niedere Stuben-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 82, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0082.html)