Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 83
Text
thür und trat in die Kammer zu dem kranken Kinde. Der
Kleine sah ihm freundlich entgegen. Er freute sich, dass
Jemand zu ihm kam. Er begann mit fieberhaftem Eifer
allerlei Fragen an den Alten zu stellen. Der kauerte sich
auf dem Bettrand nieder, stopfte sich seine Pfeife und
dampfte und erzählte. Er war vor einem halben Jahrhundert
Soldat gewesen und hatte allerlei durchgemacht. Wohl an
tausendmale hatte er alle seine Erlebnisse und Abenteuer
Freunden und Bekannten im Krug erzählt; zuletzt mochten
sie’s nicht mehr hören.
Da schwieg er denn und steckte die Pfeife zwischen
die Lippen. Jahre waren dahingegangen, seit er mit den
Schafen auf die einsamen Halden zog und mit fast Nie-
mandem mehr sprach. Nun begehrte ihn plötzlich Einer zu
hören. Er suchte in den entlegensten Ecken seines alten
Gedächtnisses und entdeckte allerlei Seltsames. Er wusste
nicht mehr, hatte er es erlebt oder nur geträumt. Aber er
erzählte. Von langen Wanderungen an der See und übers
Hochgebirge erzählte er, von schnaubenden Rossen, die über
Leichen hinwegjagten, von schönen jungen Kriegern mit
wehenden Federbüschen. Und der Knabe lauschte mit halb-
geöffneten Lippen und grossen, leuchtenden Augen.
Einmal sagte er: »Sarne, was ist das ein Hochgebirge?«
Der alte Schäfer sah vor sich hin und meinte dann langsam:
»Das sind Berge, die mitten in den Himmel hineinragen
und an denen die Wolken sich spiessen, wenn sie drüber
hinweggleiten wollen.«
Mitten in den Himmel hinein! An diesem Nachmittag
sprach der Junge kein Wort mehr.
Auch hörte er kaum, was der Alte ihm noch Alles er-
zählte. Er sah immer mit seinen grossen Augen auf die
kahle weisse Wand seinem Bette gegenüber. Abends, als die
Pflegemutter zurückkehrte, sagte er: »Du Mutter, ich möcht’
wohl ein Hochgebirge sehen.« Die Frau sah ihn bekümmert
an. Er phantasirte. Nun würde er wohl bald sterben. »Das
Hochgebirge kann keiner von uns hier sehen,« sagte sie
und ging an ihren Herd. Der kleine Kranke murmelte still
vor sich hin: »Warum nur nicht, warum nur nicht?« Er
glaubte es nicht, dass man etwas, das man sehen wollte,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 83, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0083.html)