Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 84
Text
nicht sehen konnte. In der Nacht träumte er wunderliche
Träume und redete im Schlaf.
Einmal sagte Sarne zu der Frau: »Warum nimmst du
ihn denn nicht mit aufs Feld? Sterben muss er ja doch bald.
Im Flur steht der kleine hölzerne Wagen, mit dem er früher
immer gespielt hat. Setz’ ihn da hinein und nimm ihn einmal
mit dir. Er ist ja jetzt so klein und leicht geworden und
geht gewiss in das Wäglein.«
Die Frau in ihrer weiblichen Zaghaftigkeit wagte nicht,
Sarne’s Rath zu befolgen.
Da einmal, als sie wieder draussen war, nahm der
Schäfer das Kind, wickelte es gut in eine Decke ein, setzte
es in das Wäglein und schob es hinaus ins Freie.
Der Kleine jauchzte vor Lust. Seine Augen wurden
noch einmal so gross und weit. Aber plötzlich verstummte
sein Jubel. Ringsum die unermessliche Haide mit ihrem
braunrothen Boden. Im Westen aber, was war das? Seine
Blicke starrten wie trunken auf das Bild.
Ein zerklüftetes, wild übereinander gethürmtes Gebirge
scheint dort aus der Erde gewachsen zu sein. Seine Zacken
und Zinnen brennen feurig, als ob sie sich an der Sonne
entzündet hätten, indess das Massiv tief unten in dunkel-
blauen Tinten leuchtet.
»Da ist es ja,« stammelt der Junge und deutet mit
dem Finger hinüber, »da ist es ja, Hochgebirge, Hoch-
gebirge! Ich möchte wohl dort hin können, aber es ist weit,
weit vielleicht gar schon auf einem andern Welttheil.«
Der Schäfer blickt auf die lohende Wolkenwand und spricht
kein Wort.
Später liess sich das Kind ruhig nach Hause fahren.
Ein leises triumphirendes Lächeln lag um seine Lippen. Es
hatte gesehen, was es ersehnte.
Etliche Tage später — sie konnten nicht aufs Feld
hinaus, weil ein gewaltiger Sturm draussen brauste — er-
zählte Sarne von einer grossen Schlacht und den tapferen
Generälen und dem König, wie er ihm, dem Schäfer Sarne,
die Hand geschüttelt und ihm gedankt habe, dass er mit-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 84, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0084.html)