Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 127

Traum (Hirschfeld, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 127

Text

TRAUM.*)
Von Georg Hirschfeld (Berlin).

Ich kam zu Gott. Denn eine hohe Gabe
Floss seine Hand für meine Seele aus:
Ich wachte auf in meinem jungen Grabe
Und stieg an eines Engels Hand heraus.

Da war die Nacht in Silberbläue,
Und Sterne neigten sich so nah
Und waren mit weichen Händen da,
Die letzten Thränen aufzufangen,
Die mir vom Leben her in Augen blieben hangen.

Ich hatte tief gefühlt und eigen,
Ich konnte mich dem Elend neigen
Und führte es gern in den Frühling hinaus.
So hold geschaffen bist du, meine Welt,
So eigengekräftet, blumendurchhellt.
So frei für die Freiheit, Frieden, Dank
Und doch so krank
In deinem Nichtbegreifen.
Nebelstreifen
Legst du dir selber um die Stirn.
Von Geschlecht zu Geschlecht
Erbt sich ein todtes Sclavenrecht.
Viel Leichen schwimmen den Silberstrom
Allabendlich zum Frieden ein —
Die mögen alle ruhig sein
Und sprechen doch der Ruhe Hohn.
Gelebt in müder Sehnsucht nach dem Hafen,
Und in der Stunde des Erreichens eingeschlafen.

Der Engel, der mich weckte, war ein Kind,
Die Augen wie ein Bergsee tief,
Und freie, süsse Wonne lief
Aus seiner Hand mir in die meine,
Wie Elend küssende Himmelsreine.


*) Der Dichter, dessen Schauspiel »Die Mütter« auch in Wien so grossen,
ehrlichen Beifall weckte, theilt uns mit, dass diese Verse ihr Entstehen dem
Uhdeschen Bilde »Nach kurzer Rast« verdanken.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 127, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0127.html)