Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 128
Text
Ich fragt’ ihn scheu: »Führst du mich nun zu Gott?
Ich hoffe, Gott «
‚Fühlst du ihn schon?‘
Fragt mich sein süsser Kinderton.
‚Endloser Weltraum athmet um dich her,
Der Sterne strahlendes Wandelmeer.
Blick’ auf den Pfad, den deine Füsse schreiten,
Demanten sich darüber breiten,
Noch körnig, und wo sie zusammenfliessen,
Zuoberst, im geahnten Licht,
Ist Gott — und siehst du ihn auch nicht,
So wirst du ahnend ihn geniessen.‘
»O, kehrte noch im Tode nicht die Sonne
In meine armen Augen ein?
Muss ich vor meiner letzten Wonne
So menschlich noch geblendet sein?«
‚Es lebt in dir sein Bild, in deinem Sehnen,
Und schöner sehe ich ihn nicht.
Ein Jeder hat im Reich des Schönen
Ein Gottesbild im Angesicht.‘ — —
Still und gleitend schwebt er weiter,
Wie ein Engel und ein Traum,
Die demant’ne Strahlenleiter.
Und mir war, als sei das hohe Wesen
Nur mein eig’ner Drang zum Licht gewesen,
Sinnend folg’ ich seinem Saum.
»Wo sind Gottes and’re Todten?
Bin denn ewig ich allein?
Unter stillen, freien Todten
Muss auch meine Liebe sein.«
‚Weiss es nicht. Der weiss es oben.‘
»O, wie die Demanten funkeln,
Wie sie glühend sich verdunkeln —
Sind die Sterne unter uns?
Sind wir schon so hoch gestiegen?
Weisse Adler seh’ ich fliegen,
Unten ist ein Silberdunst.
Sind die Sterne Menschenwelten?
Sag’ es mir, sie sind so nah.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 128, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0128.html)