Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 130
Text
Schneegedeckt, ein Leichentuch,
Und den Duft, den alten, todten,
Athme ich, den Erdgeruch.
Trüb in Schnee gestampfte Strasse
Schliessen fern in dunkeln Reih’n
Sturmverwehte Weiden ein.
Und in müder, blauer Ferne,
Wo die Nacht den Boden küsst,
Wo die Stadt der Menschen ist,
Zittern trübe Dunkelsterne.
Starr im neuen Lebensbann
Halte ich verweilend an.
Sieh’, da nahen durch die Nacht
Menschen zwei in Arbeitstracht,
Wollen noch die Stadt erreichen,
Starren nach den Lichterzeichen
Fern hin. Und die zwei Gestalten
Lösten mir die Traumgewalten
In der todten Winternacht.
Bilder eines grossen Leides,
Das den stärksten Daseinskämpfern
Stummvergess’ne Gräber macht.
Jung die Frau, die Züge reif und krank,
Kommendes Leben schon im müden Leib,
Zu Tode matt am Weg sie niedersank.
Milde, wortlos hält der Mann sein Weib,
Beugt sich zu ihr und spricht ihr bittend Muth
Und hält sie wie sein letztes Gut.
Die Bürde hat er ihr abgenommen,
Doppelt beladen; in zitterndem Frost
Ist er mit ihr den weiten Weg gekommen.
Aber es ist keine Schuld
In dem sturmverwehten Gesicht —
Ernst nur und Geduld.
Langsam steigen ihre Augen
Auf zu ihm in stummer Liebe,
Dass sie ihm erhalten bliebe,
Will aus ihm sie Stärke saugen.
Und sie wandelt mit ihm weiter,
Schwer gestützt auf ihren Leiter,
Immer weiter — schwinden dann.
Und im weissen Mondenschein
Schien der ernste Arbeitsmann
Auch ein Christus mir zu sein.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 130, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0130.html)