Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 137
Text
und Serjoscha spann sich ein weisses Tuch. Und in Serjoschas Händen
fand sich ein kluger, schimmernder Vogel aus Gold und Edelstein.
»Schaue dich um!« sprach zu Serjoscha ein rosiger Knabe, der
gleich ihm unter der Wölbung des Tuchzeltes stand. Serjoscha blickte
zutraulich hin. Da entriss ihm der Junge den Vogel und eilte davon.
Serjoscha fühlte, dass er schwimme und schaukle. Der Fliederzweig
über ihm schwamm mit. Es ward ihm wieder bange und doch unsäg-
lich süss zu Muthe. Leise und zärtlich klangen die Sterne über ihm,
bis ihre Töne später klagend wurden. Serjoschas Leib durchfuhr
ein Schauer, der von den Füssen bis zum Kopfe strich.
»Rette dich! Zu uns!« flüsterten bebend die Sterne. Die Bank, auf
der er lag, stiess Serjoscha an und mühte sich, ihn abzuwerfen. Der
Wind zog vorbei — und schreckliche Laute erklangen plötzlich in den
Bäumen.
Serjoscha sprang empor. Sein Herz erzitterte, als hätte es Flügel
erhalten. Die Erde wankte unter seinen Füssen. Etwas Eckiges und
Schreckliches näherte sich ihm, etwas Biegsames mit stechenden, grünen
Augen, das gell und furchtbar schrie. Hinter Serjoschas Rücken lachte
Jemand mit roher, menschlicher Stimme. Doch über dem Chaos der
rauhen, feindseligen Laute, welche Serjoscha betäubend rings um-
schallten, klangen lockend, verheissend, mit leisen Stimmen die
Sterne; Serjoscha hörte sie. In der Luft schwebte ein feines, klebriges
Spinngewebe und legte sich auf Serjoschas Wangen; in dem allge-
meinen Wirrwarr und Lärm war es das einzig Stumme, und dieses
Schweigen der klebrigen Masse war ihm das Fürchterlichste.
Serjoscha wusste nicht, was er thun sollte, um sich vor diesem
Lärm und diesem Spinngewebe zu retten. Angst bedrückte sein Herz,
er begann zu laufen, wankend, stolpernd und weinend, ohne zu wissen
wohin — seine Füsse wurden schwer, sein Herz schlug mit schwerem
Gepolter in der Brust, und Alles ringsumher donnerte und knirschte
mit den Zähnen.
Serjoscha lief an einen dunklen Birkenstamm, stützte sich mit den
Händen an ihn, sprang wankend zurück und blieb in ängstlicher Ge-
quältheit stehen, indem er flüsterte:
»Was soll ich thun? Was soll ich thun?«
So heftig krampfte sich sein Herz zusammen, dass ihn sein ganzer
Körper schmerzte Aber plötzlich verschwanden der Schmerz und die
Bangigkeit. Eine stille, leise Freude erfüllte Serjoscha. Er fühlte, dass
ihn Jemand kühl behauchte und mit dem Rücken an die Erde lehnte.
Und unter ihm, weit unter ihm, leuchteten wieder hell geruhige Sterne.
Serjoscha breitete die Arme aus, stiess sich mit den Händen von der
Erde ab und stürzte mit einem lauten, scharfen Aufschrei, ähnlich dem
Heulen eines Nachtvogels, eilig und freudvoll von der dunklen Erde zu
den klaren Sternen. Lustig wirbelten die Sterne, klar und laut ertönten
sie, ihre goldenen Fittiche breiteten sie aus und eilten ihm entgegen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 137, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0137.html)