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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 173

Text

GOLGATHA.

Des Tages Blut träuft von den Bergen



Und leisen Schrittes naht die blinde Nacht —
Vom Thale steigt sie tastend auf zum Gipfel.
Dann scheucht sie fort den letzten Dämmerstrahl.

Hochaufgerichtet steht auf Golgatha
Das Kreuz und ragt gespenstisch in die Fernen —
Vom grauen Holze schimmert gelblich-weiss
Wie Elfenbein der todte Gottesleib.
Nur auf der Stirne blinken helle Tropfen
Vom Todesschweiss Mit kühlen, sanften Lippen
Küsst sie hinweg die Nacht, die bleiche Nonne.

Dann hockt sie sich am Kreuzesende nieder
Und weint und weint — und ihre Thränen fallen
Auf welke Blumen, die vom Tage krank,
Und dürre Gräser, die Erlösung dürsten
Aus ihres Mantels Laken huschen Engel
Und richten auf die tiefgebeugten Halme,
Die von der Menge Fuss zum Staub getreten.

Vom Himmel hangen schwere Wolken nieder.
Da schlägt die Nacht die blinden Augen auf,
Und zitternd schwebt daraus ein Mondenstrahl
Und flimmert um das todte Gotteshaupt
Mit den violenblassen, herben Lippen
Und den gebroch’nen, schmerzenstiefen Augen.
Doch wundersam — die röthlich-gelben Haare
Erglühen leise, wie vom Licht entzündet,
Und eine Flamme lodert um das Haupt!

Da senkt die Nacht den schwarzen Wolkenschleier,
Der Strahl verlischt — doch schimmernd steht das Kreuz —
Und wie Musik erklingen alle Weiten —
Ums Haupt des Todten flattern weisse Tauben,
Und östlich wetterleuchtet das Gericht!

Wien. Paul Wilhelm.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 173, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0173.html)