Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 201
Text
Wiener Rundschau.
1. FEBRUAR, 1897.
EINE SCHAUSPIELERIN.
Novelle von Gabriele Reuter (München).
(Schluss.)
Professor Ridberg sass in der Studirstube vor seinem Schreib-
tisch, von dem aus er der Welt viel gute und tüchtige Werke ge-
schenkt hatte. Er dachte an seine Jugend, an lustige Abende mit
lustigen Schauspielerinnen und an Eine, die ihm sehr gefiel und ihm
dann für eine kurze Weile angehörte. Wie das gekommen? — Es
konnte nicht anders sein — es war so natürlich in jenem freien be-
wegten Dasein, wo die Kunst aus dem Rausch geboren wird und der
schöne leichte Rausch aus der Kunst.
Sie war eigentlich ein liebes, tapferes Mädchen gewesen — voller
Energie und Witz und Klugheit Er hatte doch kaum an sie ge-
dacht, diese vielen, vielen Jahre hindurch; es wäre ihm nicht einge-
fallen, sich jemals einen Vorwurf zu machen. Und jetzt wollte sie ihm
nicht aus dem Sinn — nun seine Tochter zur Bühne ging.
Excellenz Wabern kam Olga in der Garderobe mit ausgebreiteten
Armen entgegen. Das Mädchen warf sich ihr stürmisch an die Brust.
»Ach, gnädige Frau! Ich bin so froh! So glücklich!«
»Mein Herzchen, ist es denn nur wahr?«
»Wahr! Wahr! Seine Braut! Wie ist es nur möglich, einen Mann
plötzlich so lieb zu haben? Den man vor zwei Wochen noch nicht
kannte! Wenn man sich auch oft vorgestellt hat — es ist doch ein
Wunder «
» Gefällt er Ihnen? Nicht, er ist ein schöner Mann? Aber
das ist ja Nebensache. Das heisst — —. Wissen Sie — ich hab’s
doch gern!«
Olga versteckte lachend ihren Kopf an der Schulter der alten
Freundin, und diese fühlte das Beben und Schauern des jungen Körpers
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 201, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0201.html)