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menschen gegeben. Auch dort, wo
er Betrachtungen über das Leben
zu machen geneigt ist, spricht aus
ihnen die sinnfällige Philosophie,
zu welcher jeder reine Mensch ge-
langt, ohne ihr aber den naiv
geistreichen Ausdruck geben zu
können. Ein weiterer Zug seiner
Dichtung ist der unendlich objec-
tive Blick, den er mit Goethe und
Homer gemein hat, jener Blick, für
welchen Distel und Rose, Jungfrau
und Dirne in gleicher Berechtigung
nebeneinander bestehen: also eine
grosse Sittlichkeit. So hat sich mir
Liliencron in seinen bisherigen
Sammlungen geboten. Aber in ihnen
befand sich gleichwohl Manches,
was man Trotzgedicht nennen
könnte. In seiner letzten Sammlung
»Poggfred« gibt es keine solchen
Trotzgedichte mehr; der Dichter
hat aufgehört, dem Publicum zu
trotzen, er beachtet es nicht mehr.
Um sich hat er einen Dornenwall
von Stanzen und Terzinen gethürmt,
schöne malende Terzinen und
Stanzen, auch Sicilianen sind dar-
unter, an mancher Stelle von wun-
derbarer Abgeklärtheit. Alle Vor-
züge früherer Gedichte finden sich
in der Sammlung in vollkommener
Ausgestaltung, die Anschaulichkeit,
die Reinheit, der gutmüthige, an-
spruchslose Humor, den ich nicht
mit Witz zu verwechseln bitte. Vor
Allem aber die grosse Anschaulich-
keit. Man kann das Buch vorne
und rückwärts aufschlagen, wie der
Dichter meint; auch die einzelnen
Gesänge bringen keine zusammen-
hängende Geschichte, sondern eine
Fluth von Träumen, Bildern und
Erlebnissen, welche um »Pogg-
fred« spielen. In dieser Welt lebt
er, nur hie und da gibt er aus
Höflichkeit dem oder jenem Zu-
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dringling einen Nasenstüber, weil er
ihn durch Missachtung zu kränken
scheut. Die Sammlung bringt
manche Stellen, welche sich mit
Homer oder mit der Bibel in der
Auffassung des ureinfachen, unver-
änderlichen Menschenlebens der
Natur vergleichen lassen. Für Leute
mit Anschauungsvermögen eine
grosse verklärende Freude, für
Leute ohne solches eine Erziehung
dazu. Man gestatte mir die An-
führung folgender Strophe, welche
das Wachsen und Gleiten des Ge-
sanges auf einem nahenden Schiffe
malen soll. Der Dichter beugt
sich zur See vor; das Schiff fährt
immer näher, die Gewalt des
Traumes bricht sich im unendlichen
hellblauen Räume immer stärker
und stärker Bahn:
Es klingt ein Knabenchor, weither,
weither,
Wohl über tiefe, tiefe Stromesbreiten,
Die Vikingharfe rauscht weither, weither,
Erinnerung aus alten, alten Zeiten,
Doch dein Gesang, hoch her, weither,
weither,
Schwebt über Harfenton und Chor und
Saiten,
Das Alles zieht, schwellend, weither,
weither
Wohl über stille, stille Wasserweiten.
L. Wittmayer
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Bayreuth. (1876—1896.) Von
Felix Weingartner, Berlin,
S. Fischer.
Der ausgezeichneten Capell-
meister Weingartner hat sich
durch seine bisherigen Publica-
tionen ebensoviel Feinde als durch
sein allgemein anerkanntes Diri-
gententalent Anhänger erworben.
Diesmal wendet sich sein Richt-
schwert vor Allem gegen die
Berufung fremder, also nicht-
deutscher Sänger und Sängerinnen
nach Bayreuth und gegen die
angeblich dadurch bedingte Ein-
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