Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 196

Deutsches Volkstheater Burgtheater

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 196

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KRITIK.

Deutsches Volksthea-
ter. »Meerleuchten.« Schau-
spiel in vier Acten von Ludwig
Ganghofer.

Einem »Gartenlaube«-Publicum,
dem gewöhnlichen Leserkreis Lud-
wig Ganghofer’s, wird dieses Stück
gewiss modern erscheinen. Denn
es hat eine Tendenz und es zeigt
uns eine schöne junge Frau in
heisser Liebe zu dem Bruder ihres
Mannes. Aber die Tendenz besteht
darin, dass gegen das Majorat zu
Gunsten der enterbten Jüngern
Adelssöhne heftig Stellung ge-
nommen wird, und das Verbrechen
der Frau — es ist ein einziger,
harmloser, gar nicht sündiger Kuss.
Die beiden Verliebten jedoch
dünken auch durch ihn sich schon
so schuldbeladen, dass sie sofort
für immer auseinandergehen. So
malt die sociale Frage sich und
so die Leidenschaft im Hirn eines
Erzählers für höhere, bleichsüchtige
Töchter. Oder hat man es sonst
noch irgendwo gesehen, dass ein-
gestandene Liebe ein Scheidungs-
grund für Unverheiratete ist? Ich
glaube nicht. — Noch imponirender
wirkt dann die Zeichnung Roberts,
des halbbetrognen Ehemannes.
Das ist der vollendetste Idiot, der
auf der Bühne jemals zu erscheinen
wagte. Diese Reden! Diese An-
sichten! Die beiden Leute wanken,
beben, jauchzen liebedurchschauert
in seiner Gegenwart — er merkt
nichts, sieht nichts, hört nichts,

sondern schleppt die dümmsten,
die entferntesten Gründe herbei,
um ihr Verwirrtsein zu erklären.
Das ist ein wahres Genie der Ver-
bohrtheit und manche blasse
Frau im Parquet und in den Logen
hat ihren Gatten dabei mit dem
sehnsüchtigen, leise-ironischen Vor-
wurf angesehen: O, warum bist
du nicht wie er! Das war aber
wirklich zu viel verlangt

R. Si.

Am 16. d. M. rafft sich das
Burgtheater zur »Wildente«
auf. Doch hat es den Anschein,
als ob man nicht Ibsen, sondern
Herrn Mitterwurzer helfen
wollte. Die glanzvolle Leistung
dieses Schauspielers, der als Hjalmar
vor einigen Jahren im Deutschen
Volkstheater gastirte, ist den
Wiener Theatergängern noch in
Erinnerung. Herr Mitterwurzer
erhält jetzt Gelegenheit, sich als
Ibsen-Darsteller zu rehabilitiren und
die Schlappe seines Allmers in
»Klein-Eyolf« wettzumachen. Die
wichtige Rolle der Hedwig ist nicht,
wie man erwarten durfte, der Frau
Reinhold zugewiesen worden,
sondern einem Fräulein Medelsky,
das neulich im Conservatorium die
Probe einer kleinen Begabung ab-
gelegt hat. Seit ihrer prächtigen
Frau Käthe (»Einsame Men-
schen«), über die sich Gerhart
Hauptmann selbst ungemein gün-
stig geäussert hat, sind die An-
sprüche der Frau Reinhold auf

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 196, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0196.html)