|
moderne Aufgaben unberücksichtigt
geblieben, und wieder einmal sieht
sich die systematisch Vernach-
lässigte in die Lage versetzt, um
ihre Entlassung anzusuchen.
Man darf darauf begierig sein,
wie unser Publicum die Reifeprüfung
für Ibsen bestehen wird. Bei »Stützen
der Gesellschaft« und »Volksfeind«
nicht durchzufallen, war noch kein
Zeugniss besonderer Modernität;
mit »Wildente« nimmt das pronon-
cirteste Gesellschaftsstück Ibsen’s
seinen Einzug in das Repertoire
der Hofbühne. Für etwaige Ohn-
machtsanfälle sind besondere Vor-
kehrungen getroffen worden. Man
darf auch auf das Verhalten der
Kritik gespannt sein. Ausfälle,
wie jüngst gelegentlich der Auf-
führung des »Peer Gynt« im Pariser
Oeuvre, wird Ibsen bei uns heute
nicht mehr über sich ergehen
lassen müssen. Mit Phrasen von
»nordischem Nebel« u. dgl. haben
die Pariser Kritiker den grossen Dra-
matiker abzuthun versucht. Inter-
essant ist es, wie damals Octave
Mirbeau, der durch die schroffe
Unabhängigkeit seiner Ideen be-
kannte und wegen derselben viel an-
gefeindete Schriftsteller, im »Journal«
gegen die Seichtheit seiner Collegen
drastisch protestirt hat: »Hört das
ehrenwerthe Federvieh schreien:
»nordische Nebel«, »Eisbären«,
»skandinavische Dunkelheit«! Der
Geist Hector Pessard’s (des ver-
storbenen Kritikers des »Gaulois«),
der bei der ersten Aufführung der
»Wildente« sterbenskrank wurde,
lebt in fast allen unsern grossen
und bewunderungswürdigen Kri-
tikern fort. Aber wenn sie ebenso
begriffsstützig sind, wie Hector
Pessard es war, so sind sie ihm
|
darin überlegen, dass sie sich als
unduldsamer offen bekennen. Sie
machen aus der Begriffsstutzigkeit
eine allgemeine Forderung, ein
Dogma der Unfehlbarkeit, einen
strengen Codex der Aesthetik, den
man nicht überschreiten darf, ohne
in den Verdacht zu gerathen, ein
Snob, ein Dummkopf oder ein
Bösewicht zu sein. Die Kritiker
gehen nämlich nicht ins Theater,
um zu begreifen oder sich rühren
zu lassen: sie gehen in die Musen-
tempel, um Decorationen und hüb-
sche, halbentkleidete Damen aut
der Scene und andere Damen mit
koketten Hütchen im Saale zu
sehen. Sie kommen auch, um Ka-
lauer, Kehrreime, Psychologien
à la Dumas, Simili-Rührungen und
Tombackhumanitäten Augier’s, Sar-
dou’s, Dennery’s, Gondinet’s, Anek-
doten Sarcey’s u. s. w. mitanzu-
hören. Das verlangt keine grosse
intellectuelle Anstrengung und för-
dert die Verdauung ehrlicher Leute.
Alles, was zum Denken zwingt,
wird von diesen Herren als feind-
seliges Element angesehen. Zwischen
»Peer Gynt« beispielsweise und
irgend einer Zote der Varietes
schwanken sie keinen Augenblick;
sie gehen in’s Variététheater. Das
nennen sie »sich vor den nordi-
schen Nebeln flüchten«!«
Künstlerhaus. Collectiv-
ausstellungen haben manches Gute.
Sie enthüllen einen Künstler. Sie
zeigen ihn in vollem Können oder
in dürftiger Armuth. So wenig ein
Gedicht einen Dichter macht, so
wenig macht ein Bild einen Maler.
Die Mittelmässigkeit, die jeder
künstlerischen Entwicklung gefähr-
licher ist als die absolute Talent-
lentlosigkeit, hat ja ihre glücklichen
Momente der Inspiration. Und ihre
|