Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 172

Mit gedämpfter Stimme (Verlaine, Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 172

Text

»MIT GEDÄMPFTER STIMME «

In dem dämmernden Dunkel des Abends,
Tief verborgen von laubigen Zweigen,
Ströme tröstend in unsere Seelen
Friedlich trauliches, heiliges Schweigen.

Und die müden, verlangenden Herzen
Soll kein wildes Begehren mehr stören,
In dem wiegenden, wogenden Raunen
Rauschender Pinien, träumender Föhren.

Schliesse die schlummertrunkenen Augen,
Und im Schoosse verbirg deine Hände —
Deine Alles vergessende Seele,
Denke nimmer an Anfang und Ende.

Will die brennende Stirne uns netzen
Kühlender, heiterer Hauch der Oase?
Sieh’, es wogen zu unseren Füssen
Gleitende Wellen im röthlichen Grase.

Und wenn feierlich, tröstend der Abend
Nieder sich senkt aus den schwärzlichen Bäumen,
Wollen auch wir bei der Nachtigall Klagen
All’ unsern Jammer und Kummer verträumen.

Paris. Paul Verlaine.

Deutsch von Alfred Neumann (Wien).

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 172, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0172.html)