Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 240

Lie, »Grossvater« Pastor, »Der Andere« Schlaf, »Frühling«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 240

Text

240 KRITIK.

schen — sie gehen durch das Leben
kalt und rauh und führen ein ein-
töniges Dasein, einen Tag wie den
anderen, ein Jahr wie das andere
und glauben, dass sie wirk-
lich gelebt hätten. Und dann fällt
der grelle Strahl der Erkenntniss
auf ihr Leben, und kummervoll,
gramzerrissen erkennen sie, wie
bitter sie sich und die Anderen
getäuscht. — Es sind wenige Per-
sonen, die Jonas Lie im »Gross-
vater« zeigt — die Ehe zu Dreien,
den Vater des Betrogenen, die
Kinder. Aber wie weiss er sie zu
zeichnen. Das elende Weib, den
schwachen Gatten, der erst in
letzter Stunde sich aufrafft zu Ent-
setzlichem, den Grossvater, der
Alles kommen sieht, wie es kommen
muss, und die süsse, herbe Terna,
die Seeschwalbe mit dem unbe-
stimmten Sehnen nach freier, frischer
Luft, wo sie die weissen Schwin-
gen breiten und sich erheben kann
aus dem Alltäglichen, höher und
immer höher bis in den reinen,
klaren Aether

Lie schreibt nicht schön im ge-
wöhnlichen Sinne wie beliebte deut-
sche Schriftsteller, Heyse, Spielhagen,
Sudermann, aber aus den rauhen,
aus der Tiefe der Seele ringenden
Worten klingt jene Poesie, die nur
den Norwegern eigen ist, und
Hamsun, Arne Garborg und Kiel-
land als Romanciers, Ibsen und
Björnson als Dramatiker aus den
schneebedeckten Ebenen zu der
einsamen Höhe der zerrissenen,
steinigen Fjords getragen hat.

Alfred Neumann .

Frühling. Von Johannes
Schlaf
. Verlag Kreisende Ringe.
Leipzig 1897.

Man merkt es dem Buche nicht
an, dass der Autor einst so Man-

ches gekonnt hat. Nietzsche hat
sein Talent aufgezehrt, er ist
Einer der Vielzuvielen, die an
Zarathustras Flackerlicht sich die
dünnen Talentflügelchen verbrannt
haben. Nie hat er das Wort, immer
das Wort ihn. Achtlos sind die
kostbarsten und seltsamsten Aus-
drücke verstreut; nirgends aber
entwickelt sich aus der prunkenden
Rhetorik eine auch nur dämmer-
haft deutliche Symbolik. So erfüllt
sich an Schlaf der Nachtreter
übles Geschick. Wo Nietzsche
dionysisch angeheitert schwankte,
fiel Schlaf mit trunkener Taumel-
prosa.

Der Andere. Von Willy
Pastor
. Verlag Kreisende Ringe.
Leipzig 1897.

Durch einige Zeit nimmt Einen
die sichere Geschicklichkeit des
Erzählers gefangen. Aber dann
wird man verdriesslich. Es geht
doch wirklich nichts vor, und das
eigentliche Problem ist zu läppisch,
um darüber Worte zu verschwenden.
Ein Todter führt gegen seinen
Nachfolger, dem er als arger
Vampyr erscheint, einen ver-
zweifelten Kampf um das geliebte
und nie besessene Weib. In un-
deutlichen Worten klagt das selt-
same Liebespaar sich seine Leiden.
Später aber erkennen sie die Sache
als Ueberspanntheit, was des
klügeren Lesers geärgerter Sinn
schon früher hätte künden können.
Zum Ueberdruss erscheint noch
eine mit geologischen Phantasien
ausgeschmückte Lebensweisheit dem
dürftigen Probleme aufgepfropft.
Dennoch hat der Autor eine starke
Begabung, die über manche Un-
gereimtheit trägt. Er muss nur
weniger wollen, und er wird mehr
können. Ludwig Bauer .


Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 240, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0240.html)