Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 239

Burgtheater Lie, »Grossvater« Schubert-Ausstellung

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 239

Text

KRITIK. 239

einer naiv - sentimentalen Burg-
schauspielerin eingelernt wurde,
wird sich in der Folge als schau-
spielerisches Unicum erweisen. Das
künstliche Licht, welches jetzt von
dieser Anfängerin ausgeht, wird
nur so lange leuchten, als es von
derjenigen, die sie einst ersetzen
soll, gespendet wird. Verschwindet
die einmal, wird die Nachfolgerin
ebenfalls erlöschen. Jung sein,
heisst noch nicht modern sein.
Herr Lewinsky als Grosshändler
Werle und Herr Schöne als
alter Ekdal haben die Intentionen
des Dichters erreicht. Sie schufen
in Dichtererde eingewurzelte Ge-
stalten. Schik.

Schubert-Ausstellung.
Es geschehen Zeichen und Wunder!
Was Niemand für möglich hielt,
ist eingetreten, und in den ersten
Stock des Künstlerhauses, wo uns
noch vor Kurzem Hermann Vogl-
sche Nichtigkeiten langweilten, ist
ein Genie eingezogen. In einer Hoch-
fluth naiver Holzschnitte, dunkler
Porträts und greller Aquarelle wird
der Schatten Franz Schubert’s
heraufbeschworen, und um ihn
taucht ganz Alt-Wien empor mit
all seiner kleinbürgerlichen Ge-
müthlichkeit und seiner stimmungs-
vollen Beschränktheit. Schubert’s
Geburtshaus und Schubert’s Zeitge-
nossen, Schubert auf der Landpartie
und Schubert, wie er Kaffee trinkt.
Dazwischen die Dannhauser und
Kupelwieser mit ihren einfältigen
Genrebildern und Schwind, der
der Romantik die Grosse nahm
Es liegt uns fern, dieser Aus-
stellung nahetreten zu wollen, die
ja, besonders für ältere Leute, eines
gewissen culturhistorischen Inter-
esses nicht entbehren mag. Aber
es ist unerfindlich, wie sie ins

Künstlerhaus kommt, denn die
Beziehungen Schubert’s zur Wiener
Malerei beschränken sich wohl
darauf, dass Beide todt und be-
graben sind. Man braucht sich nur
einen Moment die Unmöglichkeit
einer ähnlichen Ausstellung in den
Champs Elysées oder im Mün-
chener Glaspalast vorzustellen, um
den ganzen Jammer unserer un-
heilharen Wiener Culturlosigkeit zu
fühlen. Dass die Wiener Künstler-
genossenschaft aus eigener Kraft
eine Ausstellung veranstalte, die
neben der wundervollen Renaissance
deutschen und französischen Kunst-
lebens nicht lächerlich wirkt, kann
man gewiss nicht von ihr ver-
langen; ultra posse nemo te-
neatur. Aber wenigstens mögen
die Herren nicht vergessen, was
sie der Würde eines Kunsthauses
schuldig sind, und uns derartige
Acte der Barbarei ersparen. Doch
freilich, sie haben ja jetzt Wich-
tigeres zu bedenken: Sie müssen
das Gschnasfest vorbereiten.

f. r.

Jonas Lie: »Grossvater
Roman. — Verlag von Richard
Taendler
. Berlin 1896.

Es geht ein harter, kalter Zug
durch die nordischen Poesien,
etwas, was an die Landschaften
Schwedens erinnert: bald zerris-
sene, steinige Fjords, Klippen und
spitze Zacken, bald meilenweite
Schneefelder, einsam, gottverlassen,
in furchtbarer Monotonie das Weiter-
wollen ertödtend Der kalte,
harte Zug gemahnt auch an die
Tage im Norden, trüb, dunkel,
hoffnungslos oder von zu grellem
Sonnenlicht überfluthet, das schmerz-
bereitend in das Auge dringt
Und die Natur überträgt das ihr
eigene Gepräge auch auf die Men-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 239, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0239.html)