Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 235
Text
Von Dr. Maximilian Stiglitz (Wien).
Max Halbe feiert jetzt einen seltenen Triumph; selten in seiner
Ursache und selten in seiner Veranlassung. Die Ursache seines Triumphes
ist seine »Jugend«, die mit überraschender Geschwindigkeit in den
Bücher- und Bühnenschatz des deutschen Volkes überging, die Ver-
anlassung das rein locale Verbot ihrer Aufführung.
Es ist nicht wahr, dass die österreichische Regierung die Auf-
führung von Halbe’s »Jugend« ganz verbot. Wer das behauptet, irrt.
Im Gegentheil, die Herren Badeni und Kielmansegg haben die
Aufführung der »Jugend« ausdrücklich gestattet. Aber allerdings nur
in der Bukowina.
Allem Anschein nach wurde Halbe’s »Jugend« für Czernowitz
reservirt, um all die stacheligen Wiener Literaten zum Pilgerzug
nach dem Hinterland von Badeni’s Mutterprovinz zu zwingen, auf dass
sie sich in östlicher Cultur von westlichen Schlacken reinigten. Viel-
leicht war da durch die Massenbeförderung Wiener Volkes nach Czerno-
witz auch den nothleidenden galizischen Staatsbahnen auf leichte Weise
aufzuhelfen. Also zwei Fliegen auf einen Schlag! Max Halbe’s zweiter
Triumph besteht darin: Er wird ein Mittel zur Hebung des Fremden-
verkehrs nach dem Lande, in welchem sich Graf Kielmansegg seine
ersten bezirkshauptmännlichen Sporen verdiente. Und er weist uns
schliesslich auch die Geistesrichtung der Herren Badeni und Kiel-
mansegg — die halbasiatische.
Allein die Sache hat noch eine andere Seite, welche die Schrift-
steller, die mit solcher Bevorzugung ihrer Dichtungen nicht einver-
standen sind, und das Volk, welches zu einer Urlaubsreise nach Halb-
asien kein Geld und keine Zeit hat, ernstlich in ihren vitalsten geistigen
Interessen berührt. Und darum haben die Schriftsteller und die breiten
Volksschichten sich kürzlich in mehreren Versammlungen gegen diese
neueste Methode von Cultureinimpfung heftig ausgesprochen. Die Praxis
der heutigen Theatercensur kam dabei recht übel weg, und die öffentlich
rechtliche Basis derselben erfuhr eine vernichtende Kritik.
Die öffentlich rechtliche Basis? Eigentlich hat die Theatercensur
nach den Gesetzen, die heute in Oesterreich in Geltung stehen, über-
haupt keine staatsrechtliche Grundlage mehr; sie würde längst nicht
mehr ihr anrüchiges Gewerbe ausüben, würden in Oesterreich die Ge-
setze nicht bloss zu dem Zweck erlassen, um von dem Theoretiker
studirt und von dem Praktiker ignorirt zu werden. Das Recht auf das
freie Wort und die freie Schrift ist nach langen, oft blutigen Kämpfen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 235, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0235.html)