Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 227

Gespenster im Menschen (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 227

Text

GESPENSTER IM MENSCHEN.
(Henrik Ibsen, »John Gabriel Borkman«.)
Von Franz Servaes (Berlin).

Zuweilen, wenn wir mit einem Menschen sprechen — vielleicht
lachen wir ihn gerade harmlos an und blasen den Dampf unserer Cigarette
weg — überrascht uns plötzlich in seinem Gesicht irgend eine Linie,
die wir niemals bemerkt haben, die jetzt plötzlich auftaucht und rasch
wieder verschwindet, und die doch einen Eindruck in uns hinterlässt,
der dem Schrecken nahekommt. Wir bezwingen uns aufs Aeusserste,
damit der Andere nur ja nichts merke von unserer jähen Gemüths-
bewegung. Aber wir lauern unaufhörlich, ob der Zug nicht wieder-
kehren will, der unwillkürliche, verrätherische, der mit einemmale das
verborgene Gewebe einer ganzen Innenwelt vor uns blosszulegen schien.
Aber wir lauern und lungern meist vergebens. Gespenster sind scheu.
Unentwirrbarer Zufall ist’s, wenn sie sich einmal ans Tageslicht hinaus-
gewagt haben. Und schnell verkriechen sie sich wieder und hocken
und kleben im verkrümmten Winkel ihrer dumpfigen Dämmerhöhle.
Dort aber sitzen sie und wissen, dass sie die Herren sind, über
die Menschen sowohl als über der Menschen Werke und der Menschen
Schicksale.

»Es muss diese Geisterwelt geben,« so sagt auch Willy Pastor
in seinem tiefangelegten Romanessay »Der Andere«. »Wir Menschen
dünken uns stolz, wenn wir den Fluss eindämmen und die Kraft ab-
schöpfen von seinen Fällen. Aber Wesen gibt es, unsichtbar und doch
fühlbar, die schöpfen ab von uns, was wir thun und denken. Wenn
wir Wege bauen oder philosophische Gedanken denken, bauen und
denken wir, weil sie es so wollen. Nichts, nichts ist freiwillig, was
wir ausüben. Und wenn böse Dämonen uns fingen, was hilft es, dass
wir gut sind? Wir sind doch so wehrlos gegen sie wie ein Thier im
Käfig.«

Hier sind die Geister allerdings als etwas gefasst, das gewisser-
massen ausserhalb unser existirt, das nur von Zeit zu Zeit einmal,
gleichsam im Vorübergehen, uns berührt und dann heilsam oder schäd-
lich auf uns einwirkt. In diesem Sinne steckt die ganze Umwelt voller
Geister, die unausgesetzt an uns saugen, unausgesetzt an uns bauen
und auf Millionen geheimer Porenwege in uns eindringen. Doch auch
in uns selber wohnt etwas Gespenstisches, gerade so unfassbar, gerade

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 227, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0227.html)