Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 228
Text
so unbekannt und gerade so mächtig wie alle die Geister, die uns von
aussen umirren. Wir tragen es in uns und wissen es nicht. Aber blind
und unbedingt müssen wir ihm gehorchen. Es ist in uns lebendig als
Urinstinct, als intimster Lebensimpuls. Es hat nichts vor sich als seine
Aufgabe. Und der wird es unter allen Umständen gerecht. Es irrt nie.
Es geht mit elementarer Macht und Sicherheit seinen Weg. Ob die
Maschine darüber zugrunde geht, ob sie Schaden leidet oder reparirt
wird, ob sie mit heisser Dampfkraft arbeitet oder von frühem Rost zer-
nagt wird, oder ob sie vielleicht Herrliches zuwege bringt, das der ganzen
Menschheit rings ein Staunen und ein Labsal wird, die gespenstische
Naturkraft in uns, die Niemand sieht und Niemand kennt, sie bleibt
unwandelbar dieselbe, unzerstörbar und unveränderlich, ewig gleich-
müthig, des »Glücks« und des »Unglücks« völlig unkundig.
Aber das Gespenst, wie gesagt, liegt ganz still in uns, ist lautlos
und unmerkbar bei der Arbeit. Wir selber spüren fast die ganze Zeit
unseres Lebens nicht das Mindeste von ihm. Wir stehen nur ganz
schlicht in seinen Diensten. Aber dabei fühlen wir uns oft froh und
stark, als unsere eigenen Herren, und sind stolz auf die Werke, die
»wir« vollbringen. Noch weniger kennen wir die Gespenster der
Anderen. Wir suchen sie nicht und wissen nichts von ihnen. Aber
unablässig kämpfen wir mit ihnen, als mit unsichtbaren Gegnern. Doch
auch dies kommt uns kaum je zum Bewusstsein. Meist freuen wir uns
über die charmanten Kerle, die das Sckicksal uns mit auf den Lebens-
weg gegeben hat und die wir unsere Brüder und unsere Freunde
nennen. Wir finden, dass es ausserordentlich belustigend ist, mit ihnen
zu plaudern und zu lachen, Bier zu trinken und spazieren zu gehen.
Wie fremd sie uns im tiefsten Grunde sind, darüber täuschen wir uns
im blinden Lebensdrange leichtfertig hinweg. Bis dann unversehens
einer jener erschreckenden Momente kommt, wo das Gespenst unseres
Freundes uns aus einem Augenwinkel oder einem Mundeslächeln drohend
anblinzelt und wir dann verstummen und plötzlich so feierlich-ernst,
so nachdenklich-inunsgekehrt werden
Dann raunt das Gespenst in uns selber: »Sahst du, sahst du
das fremde Gespenst? Hüte dich, mein Lieber, aufs Strengste hüte
dich!« Denn die Gespenster sind einander feind. Sie ringen alle mit-
einander um die Macht und liegen in erbittertem Kampf wider ein-
ander, so lange sie an das zerbrechliche Gehäuse gefesselt sind, das
wir unser menschliches Ich nennen. Erst wenn sie davon frei sind,
fliessen sie jauchzend in den unermesslichen Weltäther und wissen
nichts mehr von Hader und Machtbegehr.
Und nun frage ich euch, nachdem ihr also vorbereitet seid:
Laset ihr schon das neueste Drama von Henrik Ibsen, den »John
Gabriel Borkman«? Die deutsche Originalausgabe (mehr original
als deutsch, wie ich leider bekennen muss!) erschien kürzlich in
München bei Albert Langen. Niemals habe ich etwas gelesen, selbst
bei Ibsen nicht, das dermassen hinter dem Menschen das Gespenst
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 228, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0228.html)