Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 229

Gespenster im Menschen (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 229

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GESPENSTER IM MENSCHEN. 229

uns erscheinen liesse. Ja, der Mensch zergeht schliesslich und zerfällt,
und nur das Gespenst oder die Gespenster führen das Wort. Was
werden da diejenigen sagen, die immer noch gewohnt sind, im
nordischen Meister den grossen »Charakteristiker«, wohl gar den
»Realisten« zu preisen?

Ihr wisst, eines seiner Dramen führt den Titel »Gespenster«.
Darin hat er zuerst jene Entdeckung gemacht, die ihn nun nicht mehr
loslässt, oder sie trat ihm doch damals zum erstenmal mit voller
Klarheit und Schärfe ins Bewusstsein. »Wir schleppen etwas mit uns
herum, das nicht von uns ist,« so lautete damals die Erkenntniss,
»etwas geheimnissvoll Ererbtes, das unabhängig von unserem Wollen
und Wissen unser Schicksal schmiedet mit räthselhaft furchtbaren
Hammerschlägen.« Seitdem sahen wir hinter den Ibsen’schen Menschen
immer schattenhaft etwas wandeln, und manchmal schlugen die Schatten
über den Menschen zusammen und machten sie nebelhaft und undurch-
dringlich. Wohl sprachen diese Menschen noch und bewegten sich wie
die Menschen des Alltags. Aber was sie thaten, was sie wollten, das
war nicht mehr von dieser Welt. Auf einfältige Gemüther machte das
einen Eindruck, als ob die Ibsen’schen Menschen alle wahnsinnig
wären — weil das Aussenmenschliche so beängstigend dahinschwand
und das Innenmenschliche, Gespenstische aus ihnen heraustrat. Der
Eindruck dieser Leute zeugte zwar von etwas Beschränktheit, war aber
keineswegs unvernünftig. Denn darin besteht ja zumeist der Wahnsinn
des Menschen, dass das Gespenst die wehrenden Aussenschranken
durchbricht und mit enthüllter Larve der Welt ins Gesicht grinst. Nur
hatten jene Leute nicht bedacht, dass der Dichter gegenüber dem
Leben seine besonderen Rechte hat, und dass er mit wohlbedachter
Intuition wohl auch einmal jenen Schleier lüften darf, den sonst Ver-
nunft und Sitte niederhalten und den erst die Trunkenheit und der
Wahnsinn wegzuzerren belieben. Freilich zeigte uns Ibsen weder
Trunkenheit noch Wahnsinn, er »zerrte« auch den Schleier nicht weg
— er liess ihn nur langsam, langsam verdunsten. Immer glaubten wir
noch den Alltag vor uns zu sehen, mit seiner heuchlerischen, trüge-
rischen Deutlichkeit, und doch hatte sich unmerklich ein Geistertag
entwirkt, und in seinem geheimnisvollen Duste lag gross und ernst,
in gespenstischer Nacktheit die — Wahrheit. Da machten wohl Viele
die Augen zu und sagten, dass sie nichts mehr sehen könnten. Und
sie sahen auch nichts. Denn die Gespenster — blieben ihnen un-
sichtbar.

Das ist es, wodurch Ibsen uns im Anfange regelmässig täuscht
(oder doch zu täuschen versucht), dass er die Mittel jener realistischen
Kleinkunst, die er sich für eine frühere Phase erworben hatte, äusser-
lich im Ganzen beibehält. Da sind der Ton des Lebens, die be-
obachtungs- und nuancenreiche Charakteristik, die genau berechnete
Wahrscheinlichkeit der äusseren Umstände, die sorglich motivirte
Schiebung der Handlung, das ungezwungene Kommen und Gehen der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 229, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0229.html)